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Institut der deutschen Wirtschaft Köln IW-Policy Paper Nr. 20 15. November 2017 „Jamaika“: Analyse und Bewertung der programmatischen Schnittmengen der möglichen neuen Bundesregierung

Kurz vor dem Abschluss der Jamaika-Sondierungen ringen CDU/CSU, FDP und Grüne noch immer um gemeinsame Positionen. Das Institut der deutschen Wirtschaft Köln gibt einen Überblick über thematische Überschneidungen und Konfliktpotenziale und ordnet diese ökonomisch ein.

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Analyse und Bewertung der programmatischen Schnittmengen der möglichen neuen Bundesregierung
Institut der deutschen Wirtschaft Köln IW-Policy Paper Nr. 20 15. November 2017

„Jamaika“: Analyse und Bewertung der programmatischen Schnittmengen der möglichen neuen Bundesregierung

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Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Institut der deutschen Wirtschaft (IW)

Kurz vor dem Abschluss der Jamaika-Sondierungen ringen CDU/CSU, FDP und Grüne noch immer um gemeinsame Positionen. Das Institut der deutschen Wirtschaft Köln gibt einen Überblick über thematische Überschneidungen und Konfliktpotenziale und ordnet diese ökonomisch ein.

Die Bundestagswahl am 24. September 2017 hat die deutsche Politik vor eine neue Situation gestellt. Da eine erneute Große Koalition durch die SPD ausgeschlossen wird, bereiten CDU/CSU, FDP und Grüne erstmals eine „Jamaika“-Koalition vor. Auch wenn es auf kommunaler und Landesebene bereits Erfahrungen mit schwarz-grünen und Jamaika-Koalitionen gibt, ist eine Einigung zwischen vier Parteien mit drei Fraktionen, die sich traditionell unterschiedlichen Lagern zurechnen, eine besondere Herausforderung.

Das vorliegende Dokument beleuchtet die aus wirtschaftspolitischer Sicht wichtigsten Themen der Koalitionsgespräche. Dazu werden die jeweiligen Wahlprogramme miteinander verglichen, auf ihre Überschneidungen und Konfliktpotenziale untersucht und um die Einschätzung zu den bisherigen Sondierungsständen (verfügbarer Stand bis zum 9.11.) ergänzt. Die sich daraus ergebenden möglichen Optionen werden aus ökonomischer Sicht bewertet. Zusätzlich werden eigene Vorschläge für die Politik der neuen Bundesregierung formuliert.

Eine neue Bundesregierung hat erhebliche Modernisierungsaufgaben zu lösen. Die Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft schreitet rasch voran, dies erfordert angepasste Rahmenbedingungen, Infrastrukturen und Qualifizierungsmöglichkeiten. Die Energie- und Klimapolitik erfordert Lösungen, die Klimaschutz und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit miteinander verbinden. Die demografische Entwicklung macht Anpassungen der öffentlichen Haushalte und der sozialen Sicherungssystem zwingend. Investitions- und Innovationsbedingungen in Deutschland müssen so gut sein, dass die Wachstumsperspektiven für Produktivität und Wohlstand der Zukunft ausreichen, um den sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Anforderungen der alternden Bevölkerung gerecht zu werden.

Differenziert man die Herausforderungen für eine neue Regierung nach einzelnen Themengebieten, so wird man folgende Schwierigkeitsgrade prognostizieren können:

Finanzen, Haushalt, Steuern: Mit dem Bekenntnis zur Schuldenbremse und dem Verzicht auf die Einführung von Substanzsteuern sind zwei wichtige Konfliktpotenziale deutlich entschärft worden. Wichtig ist auch das von der neuesten Steuerschätzung ausgehende Signal, dass der zusätzliche Finanzierungsspielraum auf eine Größenordnung von etwa 39 Milliarden Euro begrenzt sein dürfte. Strittig werden dürften vor diesem Hintergrund aber das Verhältnis zwischen der Entlastung von unteren und mittleren Einkommen, etwa über den Grundfreibetrag, und der Entlastung beim Solidaritätszuschlag sowie die Konzernbesteuerung von digitalen Unternehmen. Konfliktpotenzial bietet auch eine mögliche Gegenfinanzierung zahlreicher ausgabenträchtiger Vorschläge. Schwierigkeitsgrad: hoch

Europa: Die grundsätzliche Zustimmung zu Europa ist unstrittig. Klärungs- und auch Konfliktpotenzial könnte es bei der Interpretation und Ausbuchstabierung des Subsidiaritätsprinzips, der Dotation des EU-Haushaltes, dem Ausmaß und der Ausrichtung einer europäischen Investitionsstrategie und den Sicherheitsfragen mit Blick auf die Schengen-Grenzen und das Türkeiabkommen geben. Schwierigkeitsgrad: mittel

Klima, Energie, Umwelt: Nach der von den Grünen signalisierten Kompromissbereitschaft bezüglich möglicher Ausstiegsdaten aus der Kohleverstromung und dem Verbrennungsmotor ist eine Einigung zumindest nicht mehr ausgeschlossen. Umso mehr liegen die Schwierigkeiten nun in komplizierten technischen Details, wie etwa dem Ausmaß der Einsparziele bei den Kohleemissionen, den Speichertechnologien, der energetischen Sanierung und beim Verkehrsaufkommen. Vieles wird davon abhängen, ob eine Einigung über Reduktionsziele und die damit verbundene Zahl von abzuschaltenden Kraftwerksblöcken gelingt und welche Ausgleichszahlungen dafür gegebenenfalls an die Länder mit den betroffenen Standorten vereinbart werden. Schwierigkeitsgrad: sehr hoch

Migration, Integration: Trotz beträchtlicher Schnittmengen bei dem Ziel, Fachkräftezuwanderung zu erleichtern und Fluchtursachen zu bekämpfen, dürfte die Liste potenzieller Sollbruchstellen in diesem Themenfeld besonders lang sein. Konfliktär dürften bis zuletzt die Regelung des Familiennachzugs für subsidiär Geschützte, die Abgrenzung der sicheren Herkunftsstaaten sowie die Stringenz der Rückkehrpolitik sein. Schwierig, da auch durch nationales Handeln nur bedingt lösbar, dürften auch Fragen der europäischen Grenzsicherung, der Flüchtlingsverteilung innerhalb Europas und von Resettlement-Lösungen zur Schaffung legaler Zugangswege sein. Schwierigkeitsgrad: sehr hoch

Bildung, Forschung, Innovation, Digitalisierung: Wegen der grundsätzlichen Unstrittigkeit der Notwendigkeit einer investiven Offensive in diesen Zukunftsbereichen, stehen die Einigungschancen sehr gut. Mehrausgaben für Bildung, Qualifizierung, Forschung, Forschungsförderung, Existenzgründung und digitale Infrastruktur und der insbesondere den Breitbandausbau können als sicher gelten. Strittig bleiben dürften legislative Korrekturen im föderalen Aufbau – vor allem zum Kooperationsverbot – und zum „enforcement“ eines einheitlichen digitalen Binnenmarktes. Die Gestaltung der digitalen Zuständigkeiten ist gemessen daran eine nachrangige Frage. Schwierigkeitsgrad: eher gering

Arbeit und Soziales: Mit der Verständigung darauf, die Sozialversicherungsbeiträge auf unter 40 Prozent zu begrenzen, konnte ein wichtiger Einigungspflock eingeschlagen werden. Allerdings wird um die Senkung einzelner Beitragssätze zu den Sozialversicherungen, die ja ein funktionales Äquivalent zu Steuersenkungen sein können, gerungen werden. Konfliktpotenziale im Feld Arbeit schlummern zudem bei der sachgrundlosen Befristung, der Regelung der Arbeitszeiten sowie den Rückkehrrechten. Im Feld Rente könnten vor allem die Mütterrente und die Flexibilisierung des Renteneintritts strittig werden. Im Feld Gesundheit bergen sich die Leitbildfragen Bürgerversicherung, paritätische Finanzierung und Apothekengrundversorgung Konfliktpotenziale, während im Bereich Pflege mit einem kostenträchtigen Sofortprogramm zur Verbesserung des Personalschlüssels zu rechnen ist. Schwierigkeitsgrad: eher hoch

Familie, Frauen, Senioren, Jugend: In den grundsätzlichen Zielen einer Stärkung von Familien und Kindern herrscht Übereinstimmung. Auch die Förderung der Kita- und Ganztagsangebote scheint unstrittig. Die konkrete Ausgestaltung der Kinderförderung im Steuer- und Sozialrecht birgt aber ebenso große Reibungsflächen wie die Reichweite und Eingriffstiefe in die Gleichstellungspolitik mit Maßnahmen des Steuerrechts und des Arbeitsrechts. Grund dafür sind zum Teil stark divergierende gesellschaftspolitische Leitbilder. Schwierigkeitsgrad: eher hoch

Kommunen, Leben, Wohnen, Lebensbedingungen: Die Übereinstimmung ist groß, dass zusätzlicher Wohnraum geschaffen werden muss. Mögliche Konflikte dürften sich um die Wahl der Instrumente drehen (degressive AfA, Gemeinnützigkeit, Mietpreisbremse, Sozialwohnungen, Baukindergeld). Einigungsfähig, konzeptionell aber unterforscht und daher wenig wirkungssicher sind neue Wege zur Förderung strukturschwacher Räume. Schwierigkeitsgrad: eher gering

Wirtschaft, Verkehr, Landwirtschaft: Einigkeit über die Stärkung von KMU, Selbstständigkeit und Existenzgründungen dürfte schnell herstellbar sein. Auch über eine Stärkung des Kartellrechts zur Sicherung des Wettbewerbs dürfte es ebenso Übereinstimmung geben wie über einen zusätzlichen Investitionsbedarf in der Infrastruktur und beim ÖPNV. Schwierig wird es hingegen bei einer Verständigung über Art und Struktur des erforderlichen Umsteuerungs- und Investitionsbedarfs im Bereich Mobilität, Energie und Verkehr, insbesondere im Planungsrecht und bei der Pkw-Maut. Dahinter stehen sicherlich auch kontroverse Positionen über das Verhältnis zwischen Wachstum und Ökologie. Dies dürfte sich auch im Bereich Landwirtschaft (z.B. Pflanzen- und Tierschutz) oder etwa im Bereich der Diesel- und Dienstwagenbesteuerung manifestieren. Schwierigkeitsgrad: hoch

Äußere und innere Sicherheit: Hier treffen unterschiedlichste Gesellschaftsverständnisse etwa im Bereich des Datenschutzes, der Verteidigungs- und Rüstungspolitik auf Schnittmengen bei der Notwendigkeit einer besseren Ausstattung von Polizei und Justiz, der Sicherheitsarchitektur und Cyberabwehr. Generell kommen in diesem Themenfeld noch dezidierte Bund-Länder-Fragen erschwerend hinzu. Zudem dürfte sich im Kleingedruckten eine Reihe von zähen Verhandlungen ergeben. Schwierigkeitsgrad: eher hoch

Diese Einschätzung über die unterschiedlichen Schwierigkeitsgrade in den einzelnen Politikfeldern deutet in der Summe auf beträchtliche Hürden auf dem Weg zu einer möglichen Jamaika-Koalition hin und markiert auf der einen Seite, wie weit sich die Partner wohl in manchen für sie zentralen Punkten bewegen müssen, damit es zu einer Einigung kommen kann. Auf der anderen Seite werden damit auch mögliche Tauschmengen sichtbar, und zwar sowohl innerhalb eines Themenfeldes wie auch zwischen einzelnen Themen. Damit wird auch ein politischer Stimmentausch (logrolling) möglich, in bestimmten Angelegenheiten abweichend von den eigenen Präferenzen mit einem Tauschpartner zu stimmen, um eine erforderliche Mehrheit zu organisieren.

Allerdings hat gerade bei einem politischen Stimmentausch insbesondere die öffentliche Debatte im Verbund mit den Haushältern des Bundestages darauf hinzuwirken, dass mögliche Einigungen in den Verhandlungen nicht durch ausgabenträchtige Vereinbarungen zu Lasten der gegenwärtigen oder zukünftigen Steuer- und Beitragszahler erfolgen oder dass systematisch eine Gegenfinanzierung zusätzlicher staatlicher Leistungen eingefordert wird. Gelingt diese Sicherung der fiskalpolitischen Solidität und Disziplin, so kann gerade eine solch ungewöhnliche Koalition mit zum Teil äußerst unterschiedlichen Interessen immerhin die Chance eröffnen, notwendige Veränderungsprozesse und einen weiteren Modernisierungsschub in Deutschland in einer Weise anzustoßen, die in anderen politischen Konstellationen (etwa Schwarz-Rot oder Schwarz-Gelb) so nicht möglich gewesen wäre.

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Analyse und Bewertung der programmatischen Schnittmengen der möglichen neuen Bundesregierung
Institut der deutschen Wirtschaft Köln IW-Policy Paper Nr. 20 15. November 2017

Institut der deutschen Wirtschaft Köln: „Jamaika“ – Analyse und Bewertung der programmatischen Schnittmengen der möglichen neuen Bundesregierung

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