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Knut Bergmann / Matthias Diermeier / Hanno Kempermann IW-Kurzbericht Nr. 71 26. September 2023 AfD in von Transformation betroffenen Industrieregionen am stärksten

In Industrieregionen erzielt die AfD besonders gute Wahlergebnisse. Allerdings gibt es Unterschiede: Sind solche Regionen vom Strukturwandel betroffen, fällt die Neigung zu der Partei besonders hoch aus.

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AfD in von Transformation betroffenen Industrieregionen am stärksten
Knut Bergmann / Matthias Diermeier / Hanno Kempermann IW-Kurzbericht Nr. 71 26. September 2023

AfD in von Transformation betroffenen Industrieregionen am stärksten

Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Institut der deutschen Wirtschaft (IW)

In Industrieregionen erzielt die AfD besonders gute Wahlergebnisse. Allerdings gibt es Unterschiede: Sind solche Regionen vom Strukturwandel betroffen, fällt die Neigung zu der Partei besonders hoch aus.

Die vergangenen Monate waren wirtschaftspolitisch geprägt von der Debatte um die Zukunftsfähigkeit des Standorts Deutschland. Gleichzeitgig wurde ein Erstarken der AfD verzeichnet, was die Frage aufwirft, ob ersteres eine Ursache von zweiterem sein könnte. Der Hauptgrund für AfD-Neigung ist in der Ablehnung der aktuellen Migrationspolitik zu suchen – laut der IW-Personenbefragung aus dem Frühjahr 2023 machen sich AfD-Anhänger weit überdurchschnittlich „große Sorgen“ um das Thema Migration (86,6 Prozent der AfD-Anhänger vs. 38,3 Prozent aller anderen Befragten). Darüber hinaus geben sie in überdurchschnittlichem Maße zu Protokoll, sich große Sorgen nicht nur um die eigene wirtschaftliche Lage (42,5 vs. 25,7 Prozent) zu machen, sondern auch um die allgemeine wirtschaftliche Lage (58,8 vs. 31,4 Prozent). Bei der Interpretation dieser Einschätzungen ist zu berücksichtigen, dass AfD-Anhänger weder vor einigen Jahren noch heute primär aus sozial schwachen Schichten stammen, sondern meistens ökonomisch und statusmäßig etwas zu verlieren haben (Bergmann et al., 2017, Diermeier, 2022).

Insofern bieten die soziotropischen Umfeldbedingungen mehr Erklärungsgehalt für die Wahlergebnisse der Partei als die aktuelle individuelle wirtschaftliche Situation ihrer Wähler. Konzediert werden muss, dass die AfD-Hochburgen sich hinsichtlich der Wirtschaftsstruktur als sehr heterogen zeigen, wobei sie mindestens in Westdeutschland eine erhöhte Industriekonzentration eint (Bergmann et al., 2018; Franz et al., 2018).

Die positive Korrelation zwischen Industriearbeitsplätzen und AfD-Zweitstimmenergebnis bestätigt sich bei der Bundestagswahl 2021. Der Korrelationskoeffizient beträgt auf Kreisebene in Westdeutschland 0,49 – in Ostdeutschland sogar 0,68. Auf den ersten Blick stehen diese Befunde im Gegensatz zur verbreiteten Theorie, dass gerade der Verlust von (Industrie-)Arbeitsplätzen die Wähler in die Arme einer rechtspopulistischen Globalisierungs-Opposition treibe (Rodríguez-Pose, 2018). Die AfD ist aber eben dort stark, wo die industrielle Basis weiterhin besteht – nicht umgekehrt. Möglicherweise wirkt sich hierzulande, wo die De-Industrialisierung weniger weit fortgeschritten ist als in anderen Ländern, vielmehr die Sorge um den zukünftigen Industriestandort aus, die sich in einem rechtspopulistischen Reflex in Industrieregionen spiegelt – eine Art politisches „Verlustunternehmertum“ (Reckwitz, 2023). Allerdings muss dabei je nach Industriezweig unterschieden werden, denn die Betroffenheit von den hohen Energiepreisen oder der Dekarbonisierung ist sehr heterogen.

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Doch weisen von der Transformation betroffene Regionen eine besonders hohe Verunsicherung und folglich einen hohen Zulauf zur AfD auf? Dieser Hypothese lässt sich anhand den von der IW Consult (2022) definierten Transformationsregionen nachspüren. Diese weisen eine hohe Beschäftigungsquote in energieintensiven Branchen oder der Automobilindustrie auf; alternativ wird die Anzahl emissionsintensiver Anlagen beziehungsweise der Beschäftigungsanteil in der Produktion traditioneller Automobil-Antriebe berücksichtigt. Insgesamt lassen sich 117 besonders transformationsbetroffene Landkreise oder kreisfreie Städte (91 West; 26 Ost) identifizieren.

Die AfD-Bundestagswahlergebnisse 2021 der Transformationsregionen fallen zwischen Görlitz (32,5 Prozent) und Schwerin (13,7 Prozent) sowie Pforzheim (15,9 Prozent) und Mainz (4,4 Prozent) weit auseinander. Das Beispiel Mainz zeigt, dass die AfD nicht zwangsläufig in transformationsbetroffenen Industrieregionen stark sein muss, und es spiegelbildlich AfD-Hochburgen mit nur geringem Industrieanteil gibt (etwa Gera: Industriebeschäftigen-Anteil 10,8 Prozent; 27,2 Prozent AfD-Wählern). Im Durchschnitt fällt der Zweitstimmenanteil für die Partei um 2,2 Prozentpunkte höher aus als in allen anderen Regionen. In Westdeutschland beträgt der Unterschied 1,3 Prozentpunkte – was heißt, es sind 14,7 Prozent mehr AfD-Wähler in Transformationsregionen (im Osten 2,8 Prozentpunkte, gleichbedeutend mit einem Wählerplus von 13,5 Prozent). Die Unterschiede sind auf einem 95-prozentigen Signifikanzniveau statistisch signifikant. So politisch relevant dieser Wähleranteil ist, so erklärt der Einfluss der Transformation auf das Wahlverhalten doch nur einen Teil der regionalen Unterschiede. Die Plausibilität der Ergebnisse zeigt sich nichtsdestotrotz spiegelbildlich in innovationsstarken Industrieregionen: Je höher die Patentanmeldungen, desto schwächer das AfD-Ergebnis (Diermeier, 2020).

Die Ergebnisse der IW-Personenbefragung deuten darauf hin, dass sich der Effekt mit dem Anstieg der Energiepreise ab Februar 2022 vergrößert hat. Im Frühjahr 2023 liegt der Anteil der Befragten, die in der Sonntagsfrage „AfD“ angeben, in Transformationsregionen mit 16,7 Prozent deutschlandweit 3,7 Prozentpunkte höher als in weniger betroffenen Landstrichen. In Ostdeutschland beträgt die Differenz weiterhin 2,8 Prozentpunkte, im Westen 3,6 Prozentpunkte. Die Unterschiede fallen damit gerade im Westen größer aus als bei der Bundestagswahl 2021 – wobei sich Wahlergebnisse nur bedingt mit Angaben in der Sonntagsfrage einer Online-Befragung vergleichen lassen. Laut der Befragung sorgen sich die Menschen in Transformationsregionen generell mehr als anderswo: Im Frühjahr 2023 machen sich dort 38,2 Prozent große Sorgen um die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung (vs. 33,2 Prozent in den anderen Regionen); 30,7 Prozent haben große Sorgen um ihre eigene wirtschaftliche Situation (vs. 26,5 Prozent im Rest Deutschlands). Am meisten sorgen sich wiederum AfD-Anhänger in Transformationsregionen: Ganze 62,1 Prozent geben dort an, sich große Sorgen um die allgemeine wirtschaftliche Lage zu machen; 47,1 Prozent um die eigene wirtschaftliche Situation.

Die politische Lehre daraus lautet, dass alles getan werden sollte, damit Regionen nötige Transformationsprozesse erfolgreich absolvieren – gefragt ist nicht der nachsorgende Sozialstaat, sondern der vorsorgende Investitionsstaat samt investitionsförderlicher Politik. Ein Beispiel gibt das weitgehend radikalismusresistente Ruhrgebiet, das trotz jahrzehntelangem Strukturwandel das Prädikat „auffällig unauffällig“ (Hombach et. al 2022) verdient. Wer dem Rechtspopulismus sozialpolitisch beikommen will, sollte bedenken, dass AfD-Anhänger seit Parteigründungszeiten Umverteilungspolitik selbst zu eigenen Gunsten ablehnen (Diermeier, 2020). Und dem, der im Umfragehoch der AfD ein Vexierbild des Niedergangs des Standortes D und/oder der Ampel-Koalition erkennen will, sei gesagt, dass es Transformation in Industriegebieten schon immer gab.

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