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Zeige Bild in Lightbox Eine große Gruppe Streikender geht am Berliner Flughafen die Treppen runter.
Streikende am Berliner Flughafen BER. (© Getty Images)
Hagen Lesch IW-Nachricht 27. März 2023

Warnstreiks: Konflikt als Prinzip

Es fahren weder Bus noch Bahn, Flugzeuge heben nicht ab, Kitas bleiben geschlossen, der Müll bleibt liegen: Seit Wochen beeinträchtigen Warnstreiks im Öffentlichen Dienst den Alltag in Deutschland. Neue Zahlen des Instituts der deutschen Wirtschaft zeigen nun: In keiner anderen Branche in Deutschland sind die Gewerkschaften für Lohnerhöhungen so konfliktfreudig wie ver.di, Beamtenbund und GEW. Der Verdacht drängt sich auf: Dienen die Streiks etwa vor allem der Mitgliederwerbung?

Seit Wochen ruft vor allem ver.di zu Warnstreiks auf, die inzwischen nicht mehr einige Stunden, sondern mehrere Tage andauern. Während dies vor allem unbeteiligte Bürger trifft, brüstet sich ver.di-Chef Frank Werneke damit, durch die Warnstreiks 70.000 neue Mitglieder gewonnen zu haben. Damit nicht genug: Heute streiken Bahngewerkschaft EVG, ver.di und Beamtenbund gemeinsam, um den Verkehr vollständig lahmzulegen. 

Anders als in Frankreich dürfen Streiks in Deutschland nur zur Durchsetzung tarifpolitischer Ziele geführt werden. Tatsächlich streiken ver.di und Co. im Öffentlichen Dienst für mehr Geld. Dass man dabei neue Mitglieder gewinnt, ist nicht zu beanstanden. Inzwischen dauern die einzelnen Ausstände aber nicht nur Stunden, sondern Tage. Damit haben die Warnstreiks ein Ausmaß angenommen, das die Frage nach ihrer Verhältnismäßigkeit aufwirft. Die Grenze zum unbefristeten Erzwingungsstreik ist überschritten. Diese Entwicklung ist vor allem im Öffentlichen Dienst heikel, da einem unbefristeten Streik eigentlich eine Schlichtung vorausgehen müsste. Hinzu kommt: Der Streik wird offenbar ganz gezielt dazu genutzt, um die Mitgliederbilanz aufzupolieren – der ver.di-Chef macht ja gar keinen Hehl daraus. 

Enormer Konfliktaufwand im Öffentlichen Dienst  

Das IW hat jetzt untersucht, wie sehr die Tarifrunden in einzelnen Branchen eskalieren und was dabei an Lohnerhöhungen herauskommt. Dabei zeigt sich: Im Öffentlichen Dienst eskalieren Tarifkonflikte viel stärker als in anderen Branchen – selbst stärker als in der Metall- und Elektro-Industrie, wo mit der IG Metall auch nicht gerade ein Kind von Traurigkeit das Zepter führt. Für die Berechnung wurde der Konfliktintensität von Tarifverhandlungen das damit erreichte Lohnplus gegenübergestellt.  

Im Ergebnis zeigt sich: Während die Chemiegewerkschaft IG BCE in der Chemieindustrie gerade einmal 0,12 Konfliktpunkte für ein Prozent Lohnerhöhung aufbringt, liegt der Konfliktaufwand bei der Deutschen Bahn zwischen 1,45 Punkten bei den Verhandlungen mit der Eisenbahnergewerkschaft EVG und 4,06 Punkten bei den Verhandlungen mit der Lokführergewerkschaft GDL. Bei der Deutschen Post, wo man sich jüngst in letzter Minute mit ver.di einigen konnte, liegt der Konfliktaufwand bei 3,43 Punkten. Etwas größer fällt der Konfliktaufwand mit 4,33 Punkten im Einzelhandel (ver.di) und mit 4,64 Punkten in der Metall- und Elektro-Industrie (IG Metall) aus. Den größten Konfliktaufwand betreibt die Tarifgemeinschaft aus ver.di, Beamtenbund und GEW im Öffentlichen Dienst: Hier fallen je Prozent Lohnerhöhung 6,65 Konfliktpunkte an.

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Inhaltselement mit der ID 11925

Forderungen nach einem Arbeitskampfrecht in der Daseinsvorsorge 

Dieser Vergleich stützt den Verdacht, dass vor allem ver.di die Eskalation dazu nutzt, neue Mitglieder zu gewinnen. Wie lange die neuen Mitglieder ver.di die Treue halten, ist allerdings nicht bekannt. Seitdem die Tagesstreiks im Jahr 2008 extensiv eingeführt wurden, hat ver.di fast 15 Prozent seiner Mitglieder verloren. Dabei wandern ver.di und Co. in einer juristischen Grauzone. Denn es ist wohl kaum verhältnismäßig, aus solchen Motiven einen Tarifkonflikt eskalieren zu lassen. Zudem provozieren die Gewerkschaften, dass Forderungen nach einem Arbeitskampfrecht in der Daseinsvorsorge wieder auf die politische Agenda rücken. So fordert die Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT), dass vor Streiks, auch vor Warnstreiks, ein Schlichtungsverfahren durchgeführt werden muss oder längere Ankündigungsfristen (mindestens vier Tage) einzuhalten sind. Auch wenn solche Forderungen derzeit wenig Aussicht auf politische Umsetzung haben und die Gewerkschaften dagegen Sturm laufen: Die MIT kann sich durchaus auf eine breite öffentliche Unterstützung berufen. In einer Online-Umfrage unter 1.003 Personen ab 18 Jahren sprachen sich Anfang März immerhin 41 Prozent der Befragten für den Vorschlag der MIT aus, weitere 18 Prozent waren sogar der Meinung, Streiks in Bereichen kritischer Infrastruktur sollen komplett verboten werden.  

Zur Methodik: Grundlage bilden 175 Lohn-, Arbeitszeit- und Manteltarifkonflikte aus zehn Branchen zwischen 2000 und Ende 2022. Die Konfliktintensität ergibt sich aus den im Rahmen einer Tarifauseinandersetzung ergriffenen Eskalationsmaßnahmen (etwa Streikdrohungen, Verhandlungsabbrüche, Warnstreiks, Urabstimmungen oder Streiks und Aussperrungen), während der tarifpolitische „Erfolg“ anhand des Lohnzuwachses je Stunde erfasst wird. Damit bleiben zwar qualitative Tarifziele wie Weiterbildungstarifverträge unberücksichtigt. Sonderzahlungen wie das Weihnachtsgeld, die Corona-Prämien und die Inflationsausgleichsprämien werden aber ebenso erfasst wie Arbeitszeitverkürzungen.  

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