1. Home
  2. Presse
  3. In den Medien
  4. Die unentbehrliche Nation
Zeige Bild in Lightbox Die unentbehrliche Nation
(© Foto: DOC RABE Media - Fotolia)
Michael Hüther in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Gastbeitrag 24. März 2014

Die unentbehrliche Nation

Die nationale Verspätung Deutschlands ist mit der im Jahr 1990 gefundenen staatlichen Einheit endgültig Geschichte, schreibt IW-Direktor Michael Hüther in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Erstmals seit der revolutionären Epoche um 1800 ist Deutschland nationalstaatlich keine offene Frage mehr. Indes zeitigt die Verspätung derzeit einen besonderen Ertrag: Die wirtschaftliche Stärke der Bundesrepublik.

Die Erinnerung an den Beginn des Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren hat nicht nur das Interesse an der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts neu geweckt. Zugleich erlangt damit die These des deutschen Sonderwegs Aufmerksamkeit, die aus Kontinuitätslinien vom Kaiserreich zum Dritten Reich eine Kausalität ableitet: Aus der Annahme, das Reich von 1871 sei ursächlich für den Nationalsozialismus gewesen, folgt das Urteil, dieses Reich sei ein historischer Irrtum und sein Scheitern unvermeidbar gewesen. Von diesem Verdikt ist es nur ein kurzer Weg zu der Einschätzung, dass – zumindest für Deutschland – der Nationalstaat in seiner Prägung des 19. Jahrhunderts überholt und deshalb alles darauf auszurichten sei, ihn durch multinationale Strukturen in Europa zu überwinden.

Diese Sicht war das dominante Narrativ westdeutscher Politik, um Staat und Nation zu verstehen. Der moralische Bankrott des Jahres 1945 verlangte nach einer Selbstbindung der deutschen Nation durch Selbstüberwindung in Europa. Das schien jenen Wünschen nach einer europäischen Einigung zu entsprechen, die bei unseren Nachbarn nach dem Zweiten Weltkrieg artikuliert wurden. Allerdings hat die Idee von Europa sehr unterschiedliche Deutungen erfahren. In Deutschland gehörte die nationale Selbstverpflichtung für Europa zur Staatsräson. Erst dadurch legitimierte sich der Wunsch nach staatlicher Einheit, so die Bundesregierung in den „Briefen zur deutschen Einheit“ anlässlich der Ostverträge der siebziger Jahre. Bei unseren Nachbarn brach sich hingegen die Einsicht Bahn, dass die mehr als drei Jahrhunderte geübte Kongresspolitik zwischenstaatliche Konflikte nicht mehr einzuhegen vermochte. Auf Dauer konnte Frieden in Europa nur durch transnationale Strukturen hergestellt und garantiert werden.

Der im europäischen Vergleich offenkundige Mangel an einer überzeugenden nationalstaatlichen Lösung ist ein Signum der deutschen Geschichte seit dem Aufbruch zur Moderne, der sich in der „revolutionären Epoche“ von 1750 bis 1850 in vielfältiger Weise vollzog. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs vor 25 Jahren hat sich das Bild jedoch grundlegend verändert. Während die herausragenden Zeitzeichen der europäischen Geschichte seit dem Anbruch der Moderne – die Französische Revolution mit ihren bahnbrechenden neuen Einsichten der Gleichheit, der Menschenrechte, der Demokratie, kurz: die Ideen von 1789 – in ihrer Bedeutung unbestritten sind, gilt dies für die politische, gesellschaftliche und ökonomische Wende nicht, die mit dem Zerfall des Ostblocks eingeleitet wurde. Was sind die Ideen von 1989? Ist seitdem nicht ganz überwiegend Wirklichkeit geworden, was die Französische Revolution verhieß? Lernt Europa nicht doch trotz aller Rückschläge aus den negativen Seiten von Nation und Nationalismus, so jedenfalls, dass beides nicht mehr „in einem Säurebad tiefer Skepsis“ (Hans-Ulrich Wehler) liegt?

Die Pluralisierung der Staatenwelt nach der Epochenwende von 1989 dokumentiert die Bedeutung des Organisationsprinzips Nationalstaat; aktuell belegt dies die Ukraine-Krise, wo es jenseits von Geopolitik um eine Modernisierung von Staat und Gesellschaft geht. Und: Mit der 1990 gewonnenen staatlichen Einheit hat die deutsche Nation eine Reife erreicht, die zögerlicher im Inneren und schnell im Außenverhältnis als konstruktiv empfunden wird. Die Deutschen bilden seit 1990 „keinen Streitpunkt mehr auf der europäischen Tagesordnung“, wie es Richard von Weizsäcker formulierte. Erstmals entspricht das Siedlungsgebiet weitgehend den politischen Grenzen, „streng genommen“ – so Reinhart Koselleck –, „gibt es eine deutsche Staatsnation erst seit 1990“. All dem folgt die Frage nach der Neubewertung des Nationalstaats und seinem Potential für Europa. Sie ist bislang unbeantwortet geblieben. Gerade hierzulande scheut man davor zurück und überlässt das Thema damit fragwürdigen Protagonisten.

Zudem gilt für Deutschland, dass die wirtschaftliche Robustheit, die eine größere Verantwortung in der Welt begründet, auf historisch tiefer liegende Ursachen verweist – jedenfalls kann sie nur so angemessen erklärt werden. Das Massachusetts Institute of Technology (MIT) hat in einer jüngst veröffentlichten Studie die Zukunftsfähigkeit des deutschen Industriemodells vor allem auf lange Unternehmensgeschichten und ein besonderes Innovationssystem zurückgeführt.

Der Bedarf an nationaler Selbstreflexion und Selbstvergewisserung wird damit offensichtlich. Hierfür bietet sich die These der „verspäteten Nation“ an, mit der der Philosoph und Soziologe Helmuth Plessner 1959 die Debatte über den deutschen Sonderweg befeuert hat. Plessner verortet den relevanten Zeitbezug für die Frage, wie der Resonanzboden für die nationalsozialistische Politik und Ideologie entstehen konnte, geistesgeschichtlich im 16. und 17. Jahrhundert, also im Zeitalter der Konfessionskonflikte, der Säkularisierung, der Aufklärung und der Staatenbildung. In der darauf bezogenen Pünktlichkeit der westlichen Welt – besonders Frankreichs und Englands – mit ihren Wurzeln in der Frühaufklärung und der Ausbildung eines politischen Humanismus liegt die dafür relevante Norm begründet.

Zwar hatte sich im 16. und 17. Jahrhundert im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation eine begrenzte Modernisierung vollzogen, die sich nicht fundamental von den Entwicklungen im Westen Europas unterschied. Aber anders als dort fand sie nicht auf nationaler, sondern auf territorialer Ebene statt. Die Landesherrschaft näherte sich frühmoderner Staatlichkeit an, ohne sich aus der vormodernen Bindung an das Reich befreien und zur vollen staatlichen Souveränität gelangen zu können.

Diese Strukturen, die bis heute im föderativen Aufbau der Bundesrepublik nachwirken, waren stark mit der Multikonfessionalität verbunden. Die mit der Kleinräumigkeit gegebene Nähe des Fürsten zu seinen Untertanen war folgenreich für die gesellschaftliche Entwicklung und die politische Kultur. Denn so erlebten die Menschen den frühmodernen Staat vor allem als Fürsorgestaat. Die in England wie Frankreich prägende Selbstbestimmung des Volkes und das Bekenntnis zur Freiheit des Einzelnen waren für die Deutschen lange nicht annähernd so bedeutsam.

Die romantische deutsche Reichsidee im 19. Jahrhundert war gegenüber den staatsbürgerlichen Rechten und Freiheiten indifferent. Im Gegenzug öffnete sie einer emotional bindenden, vormodernen Gemeinschaftsideologie die Tür, die mit dem Volk als Resultat einer sich in den Tiefen geschichtlicher Entwicklung verlierenden unbewussten kollektiven Substanz einen Bezugspunkt fand, der alles Politische und Individuelle existentiell umschloss.

Helmuth Plessner gelangte zu der Einschätzung, dass das neue Reich von 1871 einer bindenden Staatsidee ermangelte. Die deutsche Nationwerdung blieb damit ohne wirklichen Bezug zur klassischen Idee des Nationalstaats: „Ohne Rückhalt an einer Staatsidee, ohne Möglichkeit, aus den Quellen christlichen Bekenntnisses sich auf ein zugleich weltbedeutendes Ziel von politischer Zugkraft zu einigen, banden die Deutschen sich umso fester an eine damals noch kaum bestrittene geistige Auseinandersetzung, die Wissenschaft“. Bedeutsam ist der Hinweis Plessners, dass „diese Verspätung nicht nur eine Ungunst des Geschicks“ gewesen sei, sondern „auch eine schöpferische Möglichkeit und ein Appell an die inneren Kräfte“.

So war die Reichsgründung mit Blick auf die wirtschaftlich-technische Expansion der Beginn einer erstaunlichen Beschleunigung. Bismarcks Reich war – so Plessner – ein „Machtstaat ohne humanistisches Rechtfertigungsbedürfnis“, eine „Großmacht ohne Staatsidee“. Diese Traditionslosigkeit sei kraftspendend gewesen, denn „der Fortschrittsglaube des wissenschaftlichen und industriellen Spezialismus ersetzte den Mangel eines politischen Fortschrittsglaubens“. So bejahte die bürgerliche Gesellschaft diesen Staat zwar als Sicherung des ökonomischen Fortschritts und der Volkseinheit in seinen bürokratisch-militärischen Funktionen, doch es fehlte eine bindende politische Idee. Die heilige Begeisterung für militärisches Spiel, die im Ersten Weltkrieg sogar die Zerstörung europäischen Kulturguts rechtfertigte, und ein fragwürdiger Alltagshistorismus verdeckten nur unzureichend „die geschichtliche Ratlosigkeit einer Schicht, deren zunehmende ökonomische Macht in keinem vorgezeichneten Verhältnis zum neuen Reich stand“.

Die enthusiastische Hinwendung zur Wissenschaft und Technik führte zu einer Spezialisierung der Arbeitswelt, die anderen Nationen bis heute fremd ist. „Für jedes Interesse“ – so Plessner – „gibt es ein Fach und für jedes Fach ein Gebiet. Unter den Anstößen der technisch-industriellen Entwicklung und entsprechend der Ausbildung einer kapitalistischen Arbeitsgesellschaft, welche darauf angelegt ist, den Arbeitsprozess immer weiter zu teilen und ständig zu verfeinern beziehungsweise umzubilden, ist der Mensch in erster Linie Berufs- und Fachmensch.“

Im Jahr 1897 griff die Politik durch die Novelle des Gewerberechts auf das ständische Ausbildungsmodell des Handwerks zurück, um mit der Berufsausbildung den ökonomisch vom Verfall bedrohten Mittelstand aus Handwerk, Kleinhandel und Kleinbauerntum zu stabilisieren und eine Proletarisierung durch Lohnabhängigkeit in der Großindustrie zu verhindern. Das Lehrlingswesen wurde neu geregelt, und ab 1900 wurden aus den überkommenen Fortbildungsschulen die neuen, obligatorischen Berufsschulen. Nach der Jahrhundertwende wurde das duale Ausbildungssystem Realität. Der ökonomische Druck konnte seine politische Antwort in dieser wegweisenden Reform finden, weil diese die positive Haltung der Bevölkerung und der Eliten zur technisch-industriellen Fortentwicklung aufgriff.

Die duale Berufsausbildung schuf nicht nur eine breite Facharbeiterschaft. Sie verankerte auch die Bereitschaft und die Fähigkeit zu qualitätsorientierter Leistung in der industriellen Mittelschicht und begründete gesellschaftliche Aufstiegsmöglichkeiten. Gleichzeitig wurde die konsequente Öffnung zur Welt der Technik und der Innovation auf allen Bildungsstufen betrieben – und zwar gegen den Willen derjenigen, die an den Universitäten und Gymnasien ihre Bastion zu verteidigen suchten. Zu nennen sind die Einführung der Realgymnasien (ohne Altgriechisch zum Abitur), der lateinlosen Oberrealschulen, die Förderung und Gleichberechtigung der technischen Hochschulen (Promotionsrecht 1899/1900) sowie die gezielte Entwicklung außeruniversitärer Forschung durch die Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und die Einrichtung industrieller Verbundforschung. All das mobilisierte ein Potential in den bürgerlichen Schichten, das mit der Aporie einer überzeugenden sowie bindenden Reichsidee angelegt sowie durch die Hinwendung zu Industrie und Technik begründet war.

Die Industrialisierung Deutschlands wurde durch die Kleinstaaterei im 19. Jahrhundert zunächst erschwert, langfristig aber in hohem Maße begünstigt. Die politische, soziale und auch mentalitätsmäßige Fokussierung führte dazu, dass die Vorteile der Arbeitsteilung und der Wissensteilung in Deutschland zunächst nur kleinräumig wirksam wurden. Die Nähe des Fürsten zu seinen Untertanen begründete in den 35 Staaten des Deutschen Bundes eine im Kern fürsorgliche Politik. Im Bereich der Wirtschaft wäre sie modern als Standortpolitik zu bezeichnen: Sie zielte auf regionale Wirtschaftskreisläufe und schuf Industrialisierungszentren dort, wo Grundstoffproduktion kostengünstig möglich war.

Dank Zollunion und Eisenbahnbau profitierte bis Ende des 19. Jahrhunderts das Bismarcksche Reich als Ganzes davon. Bereits 1834 hatte Preußen mit der Mehrheit der deutschen Bundesstaaten einen Zollverein gebildet, was die handelspolitischen Verhältnisse stabilisierte und durch feste Wechselkurse half, die wirtschaftliche Integration zu einem nationalen Markt voranzutreiben.

Die Vielfalt und Vielzahl der deutschen Staaten stärkte durch den Ausbau der Infrastruktur die regionale Wirtschaftsentwicklung, die durch die spezifischen Ressourcen und die unterschiedliche Verfügbarkeit von Arbeit und Kapital angelegt war. In den Wissens-, Vorleistungs- und Produktionsverbünden, die bis heute wirksam sind, ist zugleich eine Stabilität für die Wirtschaftsentwicklung angelegt, die sich in der langen Geschichte der deutschen Familienunternehmen spiegelt.

Die industrielle Strukturentwicklung wurde im 19. Jahrhundert durch die Entstehung des auf drei Säulen beruhenden Bankensystems begleitet, das ebenfalls bis heute wirksam ist: Zur Mitte des Jahrhunderts gingen aus Privatbanken Aktienkreditbanken hervor, ab dem Jahr 1818 entstanden Sparkassen und seit den 1840er Jahren Kreditgenossenschaften. Zur Absicherung gegen die großen Lebensrisiken wurde mit der Sozialversicherung das weltweit erste moderne System sozialer Sicherung etabliert. Dabei war die Entwicklung der Sozialisten nach 1871 politisch motivierend, doch die Disposition dazu war in den frühneuzeitlich entstandenen Fürsorgestaaten angelegt. Ohne diese ideengeschichtlichen Wurzeln ist nicht zu erklären, warum diese Innovation gerade in Deutschland stattfand.

So wandelte sich Deutschland von der Reichsproklamation bis zum Beginn des Weltkrieges im Jahr 1914 vom ökonomisch, gesellschaftlich und politisch rückständigen Agrarstaat zum wirtschaftlich modernen, gesellschaftlich mobilen und politisch dem europäischen Normalfall entsprechenden Staat. Die Dynamik von Industrialisierung und Strukturwandel war eindrucksvoll und wurde öffentlich gewürdigt: Vizekanzler Clemens Delbrück legte im Januar 1914 im Reichstag dar, wie das Deutsche Reich im Export seit 1891 Frankreich und die Vereinigten Staaten überrunden und zu Großbritannien aufschließen konnte. Die wirtschaftliche Struktur Deutschlands, das Potential seiner vielen kleinräumigen Wirtschaftskreisläufe und das unerreicht moderne Bildungssystem markierten nach 1900 eine Sonderstellung in Europa, die in ihrer Substanz bis heute nachwirkt.

Die Industrialisierung präsentiert sich in der Rückschau kaum mehr als nationale Entwicklung, sondern als eine regionale Verdichtung und Differenzierung. Viel spricht für die Bedeutung von Pfadabhängigkeiten, das heißt von lange zurückgreifenden Entwicklungen mit strukturprägender Kraft. Ausdruck davon sind der hohe Industrieanteil von knapp einem Viertel und die mittelständische Unternehmensstruktur mit ihren Firmengeschichten, die nicht selten über hundert, wenn nicht zweihundert Jahre zurückreichen.

In der Wissenschaft werden Netzwerke und Cluster als wichtige Voraussetzung divergenter räumlicher und volkswirtschaftlicher Entwicklungen angesehen. Cluster zeichnen sich durch eine kritische Anzahl von Unternehmen in räumlicher Nähe aus, die entweder entlang einer oder mehrerer Wertschöpfungsketten zusammenarbeiten oder die mit vergleichbarem Profil zu einer relevanten Orientierungsgröße für den Ausbau, die Qualität und die Differenzierung der Infrastruktur sowie der Bildungseinrichtungen werden. In Clustern lassen sich Überschwappeffekte technologischer Neuerungen gut ermöglichen. Zugleich können Verbundvorteile und Lernkurveneffekte durch die Wissens-, Vorleistungs- und Produktionsnetzwerke befördert werden.

Die Hinwendung zum ökonomisch-technischen Erfolg einte im Übrigen auch beide deutsche Staaten nach 1949. Jedenfalls fällt auf, dass diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs zielstrebig und unter Einsatz aller verfügbaren Mittel und Talente ein Wiederaufbau betrieben wurde. Technische und wirtschaftliche Leistungen wurden hochgeschätzt. Überdies hatte die Bundesrepublik mit dem Modell der Sozialen Marktwirtschaft eine Art „Dritter Weg“ im Angebot, das dank des Wirtschaftswunders als Mythenersatz fungierte. Mittels wirtschaftlichen Erfolgs ließ sich die Demokratie festigen und vermeiden, was ansonsten nach einer schweren nationalen Identitätskrise zu erwarten gewesen wäre: Die Gesellschaft löste sich im Westen nicht auf in Chaos und Konflikt; nicht der Kampf politischer Gruppierungen bestimmte den Alltag, sondern der Drang aller nach wirtschaftlichem Erfolg. Das Engagement für Technik und Wirtschaft spiegelte sicher die große Not nach dem Krieg. Ebenso entscheidend war, dass andere Wege der Identitätsfindung verständlicherweise verstellt waren. Der Wiederaufbau stand damit in einer Tradition, wie sie Plessner nach 1871 entstehen sah.

Mit Blick auf diese langen Pfade von Nationbildung und wirtschaftlicher Entwicklung lässt sich die These formulieren: Die Verspätung der deutschen Nation erweist sich mit Verzögerung als ökonomischer Vorteil, der seinerseits eine neue Sonderrolle Deutschlands im heutigen Europa begründet. Diese Sonderrolle lebt von wirtschaftsstrukturellen Grundlagen, deren Kraft sich in Deutschland nachhaltiger entwickeln konnte. Anders als etwa im Vereinigten Königreich in den 1980er Jahren durch Spartengewerkschaften und den Big Bang für das Finanzsystem unter Thatcher wurden sie bislang nicht grundsätzlich in Frage gestellt.

Sichtbar wurde der industrielle Vorteil Deutschlands, als sich die Wege des Strukturwandels ab Mitte der 1990er Jahre in den etablierten Volkswirtschaften auseinanderentwickelten. Was für die deutsche Volkswirtschaft heute als Stärke gesehen wird, kontrastiert nicht nur mit beachtlichen ökonomischen Schwierigkeiten bei vielen europäischen Nachbarn. Die immer stärkere wirtschaftsstrukturelle Differenzierung seit dem Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahr 2008 führt dazu, dass die Konvergenz der Pro-Kopf-Einkommen in der Union nicht mehr voranschreitet. Damit wird ein zentrales Versprechen der europäischen Integration erstmals nachhaltig nicht erfüllt.

Das Interesse richtet sich damit auf die Erklärung der neuen Sonderrolle Deutschlands. Ein Alleinstellungsmerkmal des deutschen Wirtschaftsmodells ist der enge und umfassende Verbund zwischen Industrie und Dienstleistungssektor. Dieser Verbund ermöglicht es, Innovation und kundenorientierte Differenzierung gleichermaßen zu leisten. Der Anteil der Industrie an der Wirtschaftsleistung insgesamt liegt für eine entwickelte Volkswirtschaft mit dem knappen Viertel nicht nur besonders hoch. Der Anteil liegt seit 1995 – anders als zuvor und anders als in den meisten anderen Ländern – recht stabil auf diesem Niveau.

Im internationalen Vergleich galt dieser Zustand lange Zeit als wenig fortschrittlich, jedenfalls als wenig zukunftsträchtig. Ein zentrales Argument für diese Skepsis war die Rolle der langen Unternehmensgeschichten, die mit dieser industriellen Struktur verbunden sind. Hierzulande aber finden Innovationen vor allem in vorhandenen Unternehmensstrukturen statt, während andernorts – insbesondere in den Vereinigten Staaten – Innovationen durch neue Unternehmen getrieben und marktreif gemacht werden.

Im Vergleich mit diesen „Erfolgsgeschichten“ wird meist unterschätzt, dass inkrementelle Verbesserungen große Effekte auf das Produktionsergebnis und damit auf die Produktivität haben können. Gerade in der klassischen Industrie führt die permanente Optimierung von Abläufen zu erheblichen Fortschritten. Das setzt aber voraus, dass im Unternehmen aus langer Erfahrung die Ausdauer und die Bereitschaft vorhanden sind, sich solchermaßen beharrlich mit den eigenen Prozessen auseinanderzusetzen.

Langfristigkeit und Stabilität als besondere Kennzeichen der deutschen Unternehmens- und Wirtschaftskultur spiegeln sich jedoch nicht nur in den langen Unternehmenshistorien wider, sondern ebenso in dem hohen Maß an langfristiger Finanzierung über Banken, dem strengen Niederstwertprinzip in der HGB-Bilanzierung, der großen Bedeutung des gesellschaftlichen Versicherungsausgleichs, der Lebensversicherung mit Garantiezins sowie einer stabilen Sozialpartnerschaft – die Liste der entsprechenden Charakteristiken des deutschen Standorts ließe sich noch verlängern.

Wie lassen sich nun angesichts dieser Befunde die Ideen von 1989 formulieren? Erstens: Die europäische Nationalstaatsbildung seit dem Jahr 1989 entsprach dem Wunsch der Bürger, einer jahrzehntelangen Vorherrschaft von Großmächten und deren aus ihrer Sicht fremdem Nationalismus zu entgehen. Die Prozesse der Nationbildung sind als Ausdruck einer umfassenden Modernisierung unter den Prinzipien der Freiheit, Rechtsgleichheit und Bürgerlichkeit, der Volkssouveränität, Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung sowie der universellen, mehrheitsresistenten Menschenrechte ausgereift. Insofern sind die Ideen von 1989 auch die Ideen von 1789: Vom Sturm auf die Bastille zum Fall des Eisernen Vorhangs war der Weg zwar lang und hindernisreich, doch letztlich erfolgreich. Der Nationalstaat ist unverändert das angemessene Organisationsprinzip für die Volkssouveränität. Der Europäischen Union fehlt die Öffentlichkeit des Gemeinsamen im umfassenden Sinn der Lebenswirklichkeit. So gewinnt das Subsidiaritätsprinzip gerade heute eine besondere Bedeutung. Es wirkt als Schutzrecht der unteren Ebene und nicht als Eingriffsrecht der obersten Ebene.

Zweitens: Die nationale Verspätung Deutschlands ist mit der im Jahr 1990 gefundenen staatlichen Einheit endgültig Geschichte. Erstmals seit der revolutionären Epoche um 1800 ist Deutschland nationalstaatlich keine offene Frage mehr. In ökonomischen Kategorien zeitigt die Verspätung derzeit ihren besonderen Ertrag. Damit ergibt sich für Deutschland eine neue Verantwortung in Europa, wie sie der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski 2011 mit der Bezeichnung „unentbehrliche Nation“ umschrieb. Zum Beginn des 21. Jahrhunderts verbindet sich Deutschlands ökonomische Stärke mit einer Offenheit für Europa und einer Bürgerlichkeit seines öffentlichen Raums, die seinen Nachbarn traditionell geprägte Sorgen nimmt.

Beides sind Folgen der Verspätung im europäischen Prozess der Nationbildung. Während die volkswirtschaftliche Potenz, dem Zufall geschuldet, auf strukturellen Pfadabhängigkeiten des 19. Jahrhunderts beruht, reflektiert die Bürgerlichkeit den besonderen Umgang zumindest Westdeutschlands mit dem Zivilisationsbruch des Dritten Reiches. Die Einsicht, dass die Erinnerung an den Holocaust unabweisbar ist und sie den letzten Tribut gegenüber den Opfern und deren Hinterbliebenen ermöglicht, ist „Teil der deutschen Identitätsgeschichte“ (Christian Meier). Diese im historischen Vergleich bemerkenswerte Leistung der Erinnerung erlaubt die These, dass die verspätete Nation in besonderer Weise der Bürgerlichkeit als Haltung und Lebensform verpflichtet ist.

Mehr zum Thema

Artikel lesen
Der Handel mit Entwicklungsländern dürfte stark zurückgehen - und die Staaten näher an China rücken.
Galina Kolev-Schaefer / Adriana Neligan IW-Nachricht 15. März 2024

EU-Lieferkettengesetz: Gravierende Folgen für Entwicklungsländer

Heute unternimmt die belgische Ratspräsidentschaft einen erneuten Versuch, eine Mehrheit für das EU-Lieferkettengesetz zu finden. Trotz Nachbesserungen drohen immer noch erhebliche Nachteile – nicht nur für die europäische Wettbewerbsfähigkeit, sondern auch ...

IW

Artikel lesen
Michael Grömling / Björn Kauder Gutachten 14. März 2024

Leasing-Marktbericht 2024

Die Investitionen in Deutschland leiden unter den gegenwärtigen makroökonomischen Rahmenbedingungen. Bei den realen Bruttoanlageinvestitionen war im Jahr 2023 nochmals ein Rückgang gegenüber dem Vor-jahr in Höhe von 0,7 Prozent zu verzeichnen.

IW

Mehr zum Thema

Inhaltselement mit der ID 8880