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(© Foto: industrieblick - Fotolia)
Vera Erdmann und Axel Plünnecke in Financial Times Deutschland Gastbeitrag 17. Mai 2010

Geschäftsmodell auf der Kippe

Noch vor einigen Jahren wurde darüber diskutiert, ob Deutschland als hoch entwickelte Volkswirtschaft das Geschäftsmodell wechseln müsse, um erfolgreich sein zu können.

Ausgangspunkt dafür war die verbreitete Ansicht, dass der Anteil der industriellen Wertschöpfung weiter sinken werde, da die Nachfrage nach Industriegütern zurückgehen dürfte. Es wurde daher vereinzelt gefordert, dass die deutsche Wachstumsstrategie sich ähnlich dem britischen Modell lediglich auf Dienstleistungen konzentrieren solle.

Spätestens seit der Finanzkrise hat sich jedoch die Position durchgesetzt, dass das industriebasierte deutsche Geschäftsmodell fundiert und zukunftsfähig ist: Deutsche Unternehmen bieten vor allem anspruchsvolle Systemlösungen an, für die sowohl technischer Sachverstand als auch innovative Ideen eine entscheidende Rolle spielen. Im Zentrum stehen dabei industrielle Kerne, die zusammen mit unternehmensnahen Dienstleistern daran arbeiten, die gesamten Wertschöpfungsketten zu optimieren und am Standort Deutschland anzubieten. Dieser Verbund von Industrie und industrienahen Dienstleistungen konnte seit Mitte der 90er-Jahre seinen Anteil an der gesamten Wertschöpfung in Deutschland deutlich erhöhen und damit den Trend der Deindustrialisierung umkehren. Die sehr komplexen Lösungen werden von hoch qualifizierten Fach- und Führungskräften entwickelt und umgesetzt. Besonders erfolgreich ist Deutschland in einer ganzen Reihe von Branchen– exemplarisch seien hier der Maschinen- und der Fahrzeugbau genannt.

Aber obwohl die Unternehmen gut aufgestellt sind und Nachfrage nach hochwertigen deutschen Lösungen auf der ganzen Welt besteht, stellt der drohende Arbeitskräftemangel das deutsche Geschäftsmodell doch vor eine große Herausforderung. Eine aktuelle Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln in Kooperation mit dem Verein Deutscher Ingenieure verdeutlicht, dass rund 75 Prozent aller im Maschinenbau tätigen Akademiker Ingenieure sind. Im Fahrzeugbau liegt dieser Anteil mit rund 69 Prozent nur unwesentlich niedriger. Die Ingenieurbeschäftigung korrespondiert dabei mit der Forschungs- und Innovationsaffinität der Branchen. Im Hinblick auf hoch qualifizierte Beschäftigung sind Ingenieure folglich das Standbein des forschungsund industrieorientierten Geschäftsmodells.

Zwar weist Deutschland im europäischen Vergleich nach Finnland den höchsten Anteil von Ingenieuren an allen Erwerbstätigen auf. Doch diese Vorteile einer vergleichsweise guten Ausstattung des Standorts mit technischem Know-how drohen verloren zu gehen. In den kommenden Jahren stehen dem deutschen Arbeitsmarkt jährlich 40.000 bis 45.000 Ingenieurabsolventen zur Verfügung. Diesem Angebot steht jedoch eine deutlich höhere und steigende Nachfrage nach Ingenieuren gegenüber. Im Durchschnitt sind erwerbstätige Ingenieure in Deutschland 50 Jahre alt. Allein der demografiebedingt jährlich entstehende Ersatzbedarf beträgt aktuell rund 36.000 Ingenieure. In zehn Jahren wird der jährliche Ersatzbedarf bereits bei 44.000 Ingenieuren liegen und in 15 Jahren sogar auf 48.000 Ingenieure ansteigen. Damit wird das zu erwartende Ingenieurangebot der Hochschulen nicht mehr ausreichen, um allein den Ersatzbedarf zu decken. Wachstumschancen des Geschäftsmodells, die zu einem Expansionsbedarf an Ingenieuren führen, sind vor diesem Hintergrund nicht ausreichend realisierbar.

Andere europäische Volkswirtschaften hingegen sind in der Lage, in ingenieurintensiven Bereichen zu expandieren. In den meisten Ländern sind die Ingenieure durchschnittlich jünger als in Deutschland. Zudem ist das Angebot an Ingenieurabsolventen relativ zur Größe des Arbeitsmarktes höher – im Vereinigten Königreich beispielsweise um rund 50 Prozent, in Schweden fast doppelt und in Finnland gut dreimal so hoch wie in Deutschland.

Deutschland sollte folglich dringend handeln, um die qualifikatorische Basis des Geschäftsmodells zu erhalten und auszubauen. Initiativen der Wirtschaft engagieren sich seit vielen Jahren für das Verständnis von Technik und werben für MINT-Berufe (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik). Auch die Politik erkennt zunehmend die Bedeutung des Themas. Erste Erfolge ihrer Anstrengungen machen Mut: Die Pisa-Ergebnisse der Schüler haben sich in Naturwissenschaften und Mathematik zwischen 2000 und 2006 deutlich verbessert, der Anteil der Studienabsolventen in Deutschland steigt an, und der Anteil der MINT-Absolventen an allen Studienabsolventen legt seit einigen Jahren ebenfalls wieder zu, nachdem er zuvor lange Zeit rückläufig war.

Diese positiven Entwicklungen müssen jedoch in den kommenden Jahren an Dynamik gewinnen. Zunächst sollten die Länder zusätzliche Kapazitäten in den Ingenieurwissenschaften schaffen, um den Doppeljahrgängen an Abiturienten ein ingenieurwissenschaftliches Studium zu ermöglichen. Langfristig ist es jedoch entscheidend, die Potenziale der Jugendlichen aus bildungsfernen Familien besser als bisher zu erschließen. Hierzu muss vor allem die Effizienz der in den Schulen eingesetzten Mittel erhöht werden. Zusätzlich ist ein Ausbau der frühkindlichen Förderung wichtig. Das verbreitert die Basis für eine Höherqualifizierung– und ist effektiver und effizienter als Jugendliche später nachzuqualifizieren.

Vor diesem Hintergrund könnten die Einsparungen beim Ausbau der Kinderkrippen, die Roland Koch vorschlägt, den Industriestandort Deutschland langfristig teuer zu stehen kommen.

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