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(© Foto: curraheeshutter/iStock)
Oliver Koppel im Deutschlandfunk Interview 30. August 2017

„Wir brauchen eine stärker arbeitsmarktorientierte Zuwanderung”

Was tun gegen den Fachkräfteengpass? Oliver Koppel vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) setzt unter anderem auf Zuwanderung. Die müsse allerdings besser organisiert werden, sagte er im Deutschlandfunk. Er zeigte sich von der Politik in dieser Hinsicht enttäuscht - insbesondere von der Union.

Das Thema ist nicht neu, aber die Zahlen, die jetzt laut einer Studie auf dem Tisch liegen, die veranlassen doch zum Nachdenken. Im Jahr 2030 könnten in Deutschland drei Millionen Fachkräfte fehlen. Das besagt eine Untersuchung des Forschungsinstituts Prognos. Heute beschäftigt sich auch das Bundeskabinett mit dem Thema Fachkräftemangel. Wie glaubhaft sind denn für Sie solche Studien und Zahlen, die vorhergesagt werden?

Bei den konkreten Niveaus, ob das jetzt irgendwie drei Millionen oder wie viele auch immer sind, muss man natürlich sagen, das sind nun mal Prognosen, die es halt gibt. Die basieren auf Annahmen, die zum jetzigen Zeitpunkt realistisch sind. Das muss aber nicht dann im Jahr 2030 auch wirklich bare Münze sein.

Was man sagen kann ist, dass die grundlegenden beschriebenen Effekte, das heißt wir haben eine Alterung der Gesellschaft, die dann Pflegekräfte notwendig macht, wir haben eine sehr starke Exportwirtschaft gerade im Bereich Maschinenbau, Fahrzeugbau, wir sind eine hoch innovative Volkswirtschaft, die tatsächlich dann diese technisch-naturwissenschaftlichen Fachkräfte braucht, diese Grundannahmen scheinen mir schon sehr plausibel. Inwieweit man dann im Jahr 2030 die konkrete Zahl sehen kann, das ist etwas fraglich.

„Ein Riesenproblem, was die nachrückende Generation angeht”

In Berlin glaubt man ja, dass sich die Lage sogar verschärft hat, haben wir gerade gehört. Sehen Sie das auch so?

Was man tatsächlich sehen kann, um mal ein ganz plastisches Beispiel zu sagen. Es wird ja immer gesagt, der demografische Wandel beeinträchtigt die ganzen Ergebnisse, und das stimmt natürlich auch. Mitte der 60er-Jahre hatten wir jedes Jahr 1,4 Millionen Kinder, die geboren worden sind und die natürlich entsprechend zur Schule gegangen sind und später auch mal irgendwann ins Erwerbsleben eintreten konnten. Heute haben wir nur halb so viele. Das heißt, wir haben in Deutschland noch 700.000 Geburten pro Jahr im Vergleich zu 1,4 Millionen. Da kann man sich vorstellen, das ist natürlich ein riesiges Problem, denn die 1,4 Millionen von damals, die sind ja irgendwie maßgeblich auch am Arbeitsmarkt jetzt aktiv. Die scheiden jetzt bald in die Rente aus und die können durch die jungen Jahrgänge tatsächlich nicht mehr eins zu eins ersetzt werden. Wir haben schon auf gesamtwirtschaftlicher Ebene ein Riesenproblem, was die nachrückende Generation angeht und deren Kopfzahl.

Lassen Sie uns mal, bevor wir auf mögliche Lösungen blicken, noch kurz skizzieren, was das überhaupt bedeuten würde, wenn das jetzt so käme. Was würde das wirtschaftlich für Deutschland bedeuten?

Das würde bedeuten, dass Unternehmen ihre Standorte letztlich verlagern müssten. Wenn es wirklich so hart kommt wie prognostiziert wird, dass man hier tatsächlich in den gesuchten Qualifikationen keine Bewerber mehr findet, dann müsste man eventuell dorthin gehen, wo noch Bewerber sind. Es gibt ja auch sehr demografiestarke Regionen, nehmen Sie Indien, nehmen Sie China oder generell Asien. Da kann ich mir vorstellen, dass als letzte Möglichkeit nur noch übrig bleibt, eventuell wegzugehen. Das glaube ich aber, ehrlich gesagt, nicht. Ich glaube eher an einen umgekehrten Mechanismus, nämlich das, was wir auch heute schon beobachten können, dass wir zum Beispiel bei Ingenieuren, bei Informatikern, aber auch bei Pflegekräften, wo hier ein Riesenbedarf ist, dass eine sehr starke Zuwanderung nicht nur aus europäischen Ländern, wie Frau Nahles ja völlig korrekt attestiert hat, sondern zukünftig auch aus Drittstaaten sehen werden.

Zuwanderung: Vorbild Kanada?

Dieser Punkt wird ja in der Diskussion immer wieder angesprochen. Wie sollte so eine Zuwanderung denn gestaltet oder gesteuert werden, wenn sie Deutschland in dem Punkt nützen sollte?

Ich würde mich da, ehrlich gesagt, orientieren an erfolgreichen Modellen, die vielleicht woanders schon mal eingeführt worden sind zu dem Thema. Ich finde da Kanada, ehrlich gesagt, ziemlich pragmatisch. Das kanadische Zuwanderungsrecht ist da sehr direkt, indem sie sagen, bei uns darf jemand zuwandern, umso eher, je er oder sie dann ein Arbeitsangebot hat, umso eher die Qualifikation, die derjenige mitbringt, auch tatsächlich gesucht ist, mit Sprachkenntnissen versehen etc. Lange Rede, kurzer Sinn: Was mir vorschweben würde wäre tatsächlich so eine Art qualifikationsorientiertes Zuwanderungssystem, wo man dann sagen könnte, wir brauchen noch eine stärkere arbeitsmarktorientierte Zuwanderung als jetzt. Es gibt immer unterschiedliche Säulen der Zuwanderung. Natürlich brauchen wir auch die humanitäre Zuwanderung, die ist völlig richtig und wichtig. Die dient aber nicht unbedingt dem Arbeitsmarkt. Wir brauchen am Arbeitsmarkt tatsächlich eine qualifikationsorientierte Zuwanderung und dann kann man ganz klar sagen, es gibt Systeme, die das ziemlich transparent machen. Hat man eine gesuchte Qualifikation, eventuell auch wie alt ist man, um es klar zu sagen, kann man sich wahrscheinlich auch durch Sprachkenntnisse in den Arbeitsmarkt zeitnah integrieren und in die Gesellschaft, dann sollte man zuwandern dürfen, und das wäre auf jeden Fall ein System.

„Die Union hat sich sehr schwer getan”

Hat die Politik da in der Vergangenheit was versäumt?

Dieses System ist jetzt, offen gesagt, nicht besonders neu. Die entsprechenden Vorschläge zu einer Art Punktesystem bei der Zuwanderung, die liegen eigentlich schon seit 2008, 2009 etwa auf dem Tisch.

Sind aber nur Vorschläge!

Das sind nur Vorschläge, ja. Man muss sagen, es ist im Wesentlichen schon die Union, die sich da sehr schwer getan hat, mal ein wirklich transparentes Zuwanderungsrecht zu etablieren. Von den anderen Parteien gab es da durchaus sehr konstruktive Vorschläge, die eigentlich auch schon auf dem Tisch liegen. Meines Erachtens wird es jetzt höchste Zeit, sich endlich mal damit auseinanderzusetzen.

Und sehen Sie da Bewegung jetzt auch bei der Union?

Das ist eine gute Frage. Warten wir mal die neue Legislaturperiode ab, möchte ich mal sagen. Im Moment sehe ich die noch nicht, aber die sehe ich aus wahlkampftaktischen noch nicht. Die Frage ist, was sich dann in der neuen Legislatur tun wird. Ich habe da durchaus Hoffnung, dass sich jetzt endlich mal was tun wird. Bisher war das aber nicht besonders toll, was da gekommen ist.

Zu viele Studenten, zu wenig Auszubildende?

Über Einwanderung haben wir gesprochen. Es werden noch andere Tipps oder Möglichkeiten genannt, um dem Ganzen gegenzusteuern. Da ist die berufliche Bildung und Weiterbildung. Wie ist die bisher gelaufen?

Sagen wir mal, die ist im Großen und Ganzen sehr gut gelaufen. Es geht eigentlich weniger um die tatsächliche Qualität, so wie ich das sehe, sondern wirklich um die Quantität. Wir leben glücklicherweise in einem Staat, in dem der Bildungsaufstieg für viele Menschen möglich ist. Das heißt, Menschen, die vor 20 Jahren Elektriker geworden wären, die werden heute Elektrotechnik-Ingenieur. Das ist ja schön und gut. Wir haben so eine Art Kamineffekt nach oben. Das heißt, Leute, die früher in der Berufsbildung aktiv gewesen wären und dann auch am Arbeitsmarkt, die studieren jetzt. Das ist schön, aber die fehlen dann im beruflichen Bereich, und die Leute werden genauso gebraucht wie Ingenieure und Co. Da sehe ich einfach, dass das große Problem ist, dass da der Nachwuchs, der aus den Schulen kommt, nicht mehr wirklich gut gesichert wird. Für mich ist weniger das Problem die Weiterbildung, sondern wirklich die Heranführung an bestimmte Berufsausbildungsabschlüsse, die ganz schön schwierig ist. Das heißt, das ist wirklich ein echter Kampf geradezu.

Ganztages-Betreuung verbessern

Teilzeit wird auch als Problem genannt in diesem Zusammenhang. Da heißt es jetzt, man sollte die Arbeitszeit verlängern, Eltern zum Beispiel nach der Familienpause wieder in den Beruf zurückholen. Das sind ja nun auch sehr persönliche Entscheidungen zum Teil. Hat die Politik da überhaupt so viel Einwirkungsmöglichkeiten, oder ist das dort begrenzt?

In der Tat. Mir widerstrebt es auch ein bisschen, das Verhalten der Betroffenen, in der Regel ja auch Mütter in dem Sinne zu beeinflussen, dass man sagt, Du muss jetzt nach einem Jahr spätestens wieder arbeiten gehen. Ich finde auch, das ist eine persönliche Entscheidung. Da sollte sich die Politik nicht zu stark einmischen.

Was man aber tatsächlich sieht ist, dass es viele, gerade gut qualifizierte Mütter gibt, die eigentlich gerne früh in den Arbeitsmarkt zurückkehren, weil ihnen der Job Spaß macht, weil sie auch eine gute Qualifikation haben und weil sie auch gutes Geld verdienen können. Da sehe ich zum Beispiel den Ansatzpunkt doch ganz klar im Bereich der Ganztages-Betreuungsinfrastruktur, sowohl im Kita-Bereich als auch im U3-Bereich. Da muss einfach gerade in den Großstädten noch viel mehr getan werden. Ich kenne in meinem persönlichen Umkreis viele Frauen, die gerne arbeiten möchten, dies aber nicht schaffen, weil die Betreuungsangebote letztlich fehlen. Die wollen! Die müssen nicht gezwungen werden dazu, sondern die wollen; die können aber nicht im Moment und da liegen in der Tat große Potenziale brach. Gerade im Pflegebereich sehen wir auch, dass sehr viele, typischerweise auch dort wieder Frauen, teilzeitbeschäftigt sind, und wenn man denen Angebote, nicht Zwangsmaßnahmen, sondern Angebote machen würde, glaube ich, könnte man da auch sehr viele Potenziale heben.

„Wir haben offene Stellen für Ingenieure - aber keine arbeitslosen Ingenieure”

Herr Koppel, lassen Sie uns zum Schluss noch mal auf die ganz andere Seite gucken. Es gibt ja auch Zweifel an dieser These des Fachkräftemangels. Auch von Ihrem Institut. Da, so wird zumindest der Vorwurf gemacht, hätte man sich schon mal verrechnet. Kritiker sagen, das sei eine Erfindung von Politik und Lobbyisten. Was halten Sie dieser Kritik entgegen?

Die nüchternen Zahlen, ehrlich gesagt.

Das sind ja Zahlen für die Zukunft. Wir wissen ja nicht, ob es so kommt.

Korrekt. Natürlich! Aber ich sage mal, an der These der Überalterung der Bevölkerung, letztlich auch des fehlenden Nachwuchses aus Deutschland, jetzt mal die Zuwanderung außen vor gelassen, daran gibt es ja überhaupt nichts zu bezweifeln. Nehmen Sie die 700.000 Kinder, die heute geboren werden, im Vergleich zu den 1,4 Millionen Kindern. Das ist nun mal Fakt, das kann jeder nachlesen in den öffentlichen Statistiken.

Was die Kritiker häufiger mal nicht berücksichtigen ist das Argument, na ja, wir haben ja noch Arbeitslose, die müssen ja irgendwo doch auch noch irgendwo hin vermittelbar sein, wenn wir offene Stellen haben. Das stimmt nur eingeschränkt, denn man muss die Qualifikation auch berücksichtigen. Wir haben super viele offene Stellen für Ingenieure; wir haben aber keine arbeitslosen Ingenieure mehr in nennenswertem Ausmaß. Wir haben ein paar arbeitslose Geisteswissenschaftler zum Beispiel. Ja, die haben wir schon noch, aber die können nun mal nicht als Ingenieure arbeiten. Das heißt, man darf jetzt nicht den Fehler machen und alle Arbeitslosen mit allen offenen Stellen vergleichen, sondern man muss auch schon die qualifikatorische Passung berücksichtigen, und das ist knifflig.

Zum Interview auf deutschlandfunk.de

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