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Michael Grömling in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Gastbeitrag 7. Juni 2013

Unnötiger Streit über die Handelssalden

Deutschlands Leistungsbilanzüberschüsse sind immer wieder ein Stein des Anstoßes. Die Kritiker verkennen zwei zentrale Gründe, weshalb manche Staaten mehr exportieren als importieren. Zum einen den Aufholprozess der Schwellenländer, die viele Investitionsgüter nachfragen; zum anderen historisch gewachsene Wirtschaftsstrukturen, die Länder zu Anbietern oder Nachfragern von Investitionsgütern machen.

Seit der Jahrtausendwende haben sich in vielen Ländern markante Überschüsse oder Defizite in der Leistungsbilanz aufgebaut. Auf der einen Seite stehen Volkswirtschaften wie die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Frankreich, Italien und Spanien mit anhaltend hohen Defiziten. Auf der anderen gibt es deutliche Überschüsse in Deutschland, China, Japan und Südkorea. Im Fahrwasser der globalen Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise wird immer wieder der Vorwurf erhoben, Länder mit Leistungsbilanzüberschüssen lebten auf Kosten der Defizitländer.

Im Jahr 2010 forderte die damalige französische Wirtschaftsministerin Christine Lagarde, heute Chefin des Internationalen Währungsfonds, Obergrenzen für Leistungsbilanzsalden. Ihre Idee fruchtete und schlug sich im Verfahren zur Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte in Europa nieder. Dieser europäische Überwachungsmechanismus, den das Europäische Parlament und der Europäische Rat 2011 verabschiedeten, enthält Obergrenzen für Überschüsse und Defizite in der Leistungsbilanz. Bislang gibt es allerdings keine Sanktionen, wenn die Zielwerte überschritten werden – und das ist auch gut so, wie ein genauerer Blick auf die Zusammenhänge deutlich macht.

In der Regel ist die Argumentation, die Ungleichgewichte in der Leistungsbilanz erklären soll, folgende: Übermäßige Staats- oder Konsumausgaben provozieren ein Defizit. Die inländische Produktion und das inländische Einkommen reichen nicht aus, um Konsum-, Investitions- und Staatsausgaben zu decken. Was an Gütern und Geld fehlt, muss der betroffene Staat mit entsprechenden Importen ausgleichen. Die Erklärung des Defizits setzt also auf der Nachfrageseite an. Die gleiche Argumentation gilt für Länder mit Überschüssen: Dort übersteigen Produktion und Einkommen die private und staatliche Güternachfrage. Während die Defizitländer über ihren Verhältnissen leben, geben die Einwohner der Überschussländer ihr Einkommen nicht vollständig aus, sondern sparen es teilweise. Diese Ersparnisse wandern dann als Kredit in die Defizitländer, um dort die Finanzierungslücken zu schließen.

Für einige Ökonomen und Politiker ist die wirtschaftspolitische Reaktion auf diesen Zustand denkbar einfach: Die Defizitländer sollen einfach weniger nachfragen als bislang, die Überschussländer weniger sparen. Damit, so das Kalkül, sollen sich die Leistungsbilanzsalden automatisch annähern. Damit die Staaten auch wirklich entsprechend handeln, soll die internationale Politik verbindliche Obergrenzen setzen und Staaten bestrafen, wenn sie diese Grenzen nicht einhalten. Doch so einleuchtend und – in manchen Fällen – zweckmäßig dieser Lösungsansatz erscheint: Er wird dem komplexen Sachverhalt nicht gerecht. Denn es gibt nicht nur eine nachfrageseitige, sondern auch eine angebotsseitige Erklärung für Ungleichgewichte in der Leistungsbilanz.

Bei dieser Erklärung steht folgende Erkenntnis im Mittelpunkt: Volkswirtschaften mit einem relativ hohen Industrieanteil sind prädestiniert dafür, Leistungsbilanzüberschüsse zu erwirtschaften. Der jeweilige Leistungsbilanzsaldo kann durch die historisch gewachsene und durch eine Vielzahl unternehmerischer Entscheidungen geprägte Wirtschaftsstruktur eines Landes erklärt werden. Anders formuliert: Was eine Volkswirtschaft an Waren und Dienstleistungen anbietet, entscheidet unter bestimmten Umständen darüber, wie ihre Leistungsbilanz aussieht.

Graue Theorie und fernab der Realität ist dieser Ansatz keinesfalls. Das macht ein Blick auf rohstoffreiche Länder deutlich. Deren Überschüsse gehen auf das Konto von Erdöl, Kupfer oder seltenen Erden. Im Jahr 2012 beliefen sich die Überschüsse von elf rohstoffreichen Ländern – unter ihnen Russland, Saudi-Arabien und Norwegen – auf knapp 600 Milliarden Dollar. Zum Vergleich: Die Export-Schwergewichte Deutschland, China, Japan und Südkorea kamen im gleichen Zeitraum zusammen nur auf knapp 500 Milliarden Dollar an Überschüssen. Aber auch traditionelle Urlaubsländer, die mit hohen Bergen oder schönen Stränden Touristen anziehen, haben gute Voraussetzungen, Überschüsse in der Leistungsbilanz zu erzielen, denn andere wollen sich bei ihnen erholen und zahlen dafür.

Diese Beispiele zeigen, dass die Faktorausstattung und die Angebotspalette einer Volkswirtschaft für Überschüsse oder Defizite verantwortlich sein kann – und nicht nur die Nachfrageseite. Es leuchtet ein, dass es für diese Beispiele absurd wäre, die betroffenen Länder ob ihrer Leistungsbilanzsalden zu bestrafen. Denn im Fall der Rohstoffe wäre die Konsequenz, dass eine rohstoffreiche Nation ihre Exporte drosselt. Das würde nicht nur der eigenen Wirtschaft schaden, sondern auch all jene Länder treffen, die für ihre Produktion auf die Rohstoffimporte angewiesen sind. Top-Urlaubsdestinationen könnten ihre Überschüsse indes am leichtesten reduzieren, indem sie die Einreise von Touristen beschränken – eine politisch kaum darstellbare Idee.

Doch nicht nur Rohstoffvorräte und schöne Landschaften taugen zur angebotsseitigen Erklärung von Überschüssen oder Defiziten. Auch die Salden von fortgeschrittenen Volkswirtschaften lassen sich mit der Wirtschaftsstruktur erklären, etwa mit der Höhe des Industrieanteils: Im Jahr 2007 – also vor der globalen Finanzmarktkrise – erwirtschafteten von 18 fortgeschrittenen Volkswirtschaften vor allem jene mit einem hohen Industrieanteil einen Überschuss. Das galt für Südkorea und Deutschland, die mit 28 respektive 24 Prozent die höchsten Industrieanteile hatten. Japan, Österreich, die Schweiz und Schweden kamen mit ihren Industrieanteilen von rund 20 Prozent ebenfalls auf merkliche Überschüsse. Dagegen hatten Länder mit einem Industrieanteil von unter 15 Prozent meist ein Leistungsbilanzdefizit – zum Beispiel die Krisenländer Griechenland, Portugal, Spanien und Irland; aber auch die Vereinigten Staaten, das Vereinigte Königreich und Frankreich.

Auf den ersten Blick kann dieser Befund befremden. Schließlich sind wir doch längst im Dienstleistungszeitalter angekommen. Doch was innerhalb eines Landes gelten mag, gilt für den globalen Außenhandel noch lange nicht. Der ist immer noch in sehr hohem Maß vom Warenverkehr geprägt. Denn rund 80 Prozent des Welthandels erfolgten mit Waren, und daran scheint sich vorerst nichts zu ändern: Im Zeitraum 2002 bis 2012 stiegen die Warenexporte um insgesamt gut 180 Prozent, die Dienstleistungsausfuhren hingegen nur um 170 Prozent. Die absolute Differenz zwischen den globalen Waren- und Dienstleistungsexporten stieg im selben Zeitraum von knapp 5000 Milliarden auf knapp 14000 Milliarden Dollar an.

Dass Dienstleistungen im Exportgeschäft die zweite Geige spielen, ist indes verständlich: Trotz der modernen Informations- und Kommunikationstechnologien ist eine Reihe von Dienstleistungen international nicht handelbar. Haushaltsnahe und staatliche Dienstleistungen – wie etwa ein Gärtner oder ein Pfleger im Krankenhaus – sind auf einen engen regionalen Kundenkreis ausgerichtet. Bei der Warenproduktion hat sich die internationale Arbeitsteilung derweil deutlich stärker entwickelt: Länderspezifische Produktions- und Kostenvorteile können besser genutzt werden. Sie führten in den vergangenen beiden Dekaden zu intensiven grenzüberschreitenden Vorleistungsverflechtungen, etwa mit osteuropäischen Volkswirtschaften. Darüber hinaus fördert die moderne Logistik die internationale Spezialisierung und damit die Fragmentierung industrieller Wertschöpfungsketten. Das heißt, moderne Industrieprodukte setzten sich heute aus Einzelteilen zusammen, die oft rund um den Globus vorgefertigt werden.

Doch noch aus einem anderen entscheidenden Grund blüht der Warenhandel und bringt gerade die deutsche Leistungsbilanz ins Plus: Vor gut zehn Jahren starteten die Schwellen- und Entwicklungsländer ihre Aufholjagd, was dort zu einem gewaltigen Investitionsboom führte. Die weltweiten Bruttoinvestitionen – dabei handelt es sich um private und staatliche Investitionen in Ausrüstungen, Bauten und Vorräte, nicht aber um Finanzmarktinvestitionen – erhöhten sich von 7000 Milliarden Dollar im Jahr 2002 auf gut 17000 Milliarden Dollar im Jahr 2012. Ein solcher Investitionsboom in so kurzer Zeit dürfte bisher einzigartig gewesen sein. Die geographischen Verschiebungen der Investitionen waren dabei ebenso gewaltig: Im Jahr 2002 entfiel lediglich knapp ein Viertel der weltweiten Sachinvestitionen auf die Schwellen- und Entwicklungsländer. Bis 2012 stieg dieser Anteil auf über die Hälfte an. Die aufstrebenden Volkswirtschaften, vor allem in Asien, werden immer stärker zum Zentrum der globalen Investitionstätigkeit.

Diese Investitionswelle führt dazu, dass das Angebot aus Volkswirtschaften, in denen die Produktion von Investitionsgütern wie Maschinen und Fahrzeugen eine hohe Bedeutung hat, heute mehr denn je gefragt ist. Im Vorkrisenjahr 2007 hatte die Herstellung von Investitionsgütern in Südkorea mit 18 Prozent den weltweit höchsten Anteil an der nationalen gesamtwirtschaftlichen Bruttowertschöpfung; Deutschland rangierte mit knapp 15 Prozent auf dem zweiten Platz. Mit etwas Abstand folgten Japan, Schweden, Österreich sowie die Schweiz. Auch Italien hatte noch Anschluss an diese Gruppe. In Spanien, Dänemark, Belgien, Frankreich und Irland nahm die Produktion von Investitionsgütern im Jahr 2007 nur 6 Prozent des gesamtwirtschaftlichen Angebots ein; in den Vereinigten Staaten und im Vereinigten Königreich waren es lediglich rund 5 Prozent – gerade einmal ein Drittel des deutschen Anteils.

Es kommt dabei nicht von ungefähr, dass Deutschland viele Investitionsgüter produziert, während die Produktion in anderen Staaten zum Teil deutlich geringer ist und zudem an Bedeutung verloren hat: Zum einen hat die Produktion von Investitionsgütern in Deutschland eine lange Tradition. Zum anderen machten sich die Unternehmenslenker hierzulande nach den Kosten- und Wettbewerbsproblemen in den neunziger Jahren daran, ihre Unternehmen umzubauen und sie damit für den immer stärkeren internationalen Wettbewerb zu rüsten. Die Arbeitsteilung mit Zulieferfirmen aus dem In- und Ausland wurde intensiviert. Dies stärkte die preisliche Konkurrenzfähigkeit. Außerdem entstanden Wettbewerbsvorteile durch produktbegleitende Dienstleistungen, wie etwa Finanzierungs- oder Wartungsservice. Auch bei Forschung und Entwicklung dominiert in Deutschland die Industrie: Rund 90 Prozent der privatwirtschaftlichen F&E-Ausgaben fließen in neue Industrieprodukte. Folgerichtig sind hochmoderne Güter „Made in Germany“ begehrt, gerade in aufstrebenden investitionsstarken Schwellen- und Entwicklungsländern.

Entsprechend gut behaupten sich viele deutsche Investitionsgüterhersteller auf dem Weltmarkt; die inländischen Investitionen lassen sich durch das heimische Angebot zudem deutlich einfacher abdecken als in anderen Volkswirtschaften. Als Konsequenz dieser Konstellation – Deutschland muss selbst wenig Investitionsgüter importieren und deutsche Investitionsgüter sind im Ausland gefragt – beliefen sich die Überschüsse beim internationalen Handel mit Investitionsgütern im Jahr 2007, also vor der jüngsten Krise, auf rund 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Nur Südkoreas Überschuss war genauso hoch, während Japan mit einem Plus von 7,5 Prozent folgte. Ebenfalls deutlich positive Salden zeigten sich in Österreich, Schweden und der Schweiz. Auch Italien, die Niederlande und Belgien landeten noch leicht im Plus. Die verbleibenden Länder hatten ein Exportdefizit, das in den Krisenländern Portugal und Spanien knapp 5 Prozent, in Griechenland sogar fast 8 Prozent des BIP betrug. Aber auch die Vereinigten Staaten und das Vereinigte Königreich haben beim grenzüberschreitenden Investitionsgüterhandel ein Defizit. Das vergleichsweise niedrige Angebot an Investitionsgütern von eigenen Firmen spiegelt sich also in einem entsprechenden Handelsdefizit wider.

Zwei zentrale Erkenntnisse sind aus diesen Zusammenhängen zu ziehen:

  • Erstens, von nix kommt nix: Der globale Investitionsboom, der vor einer Dekade einsetzte, begünstigt offensichtlich Volkswirtschaften, die Investitionsgüter herstellen. Der deutsche Handels- und Leistungsbilanzüberschuss resultiert daher zum großen Teil aus dem Handel mit Investitionsgütern. Denn in Deutschland hat die Produktion dieser Güter traditionell eine hohe Bedeutung. Das Gleiche gilt für Südkorea, Japan, Schweden, Österreich und die Schweiz. Die historisch gewachsene Wirtschaftsstruktur eines Landes – und damit das, was es auf den Weltmärkten anbieten kann – entscheidet also darüber, ob eine bestimmte Nachfrage aus dem Ausland befriedigt werden kann.
  • Zweitens, nix ist fix: Eine bestimmte Leistungsbilanzkonstellation – ob nun Überschuss oder Defizit – muss nicht von Dauer sein. Deutschland ist dafür ein gutes Beispiel: Während der zweiten Hälfte der neunziger Jahre stagnierten die Investitionstätigkeiten weltweit. Entsprechend niedrig war der deutsche Handelsbilanzüberschuss, die Leistungsbilanz war sogar im Minus. Momentan wirkt die rückläufige Investitionstätigkeit in Europa in diese Richtung. Doch das rasante Aufholen der Schwellen- und Entwicklungsländer, vor allem in Asien, vermag das bislang mehr als auszugleichen. Allerdings ist nicht gewiss, ob sich die Investitionstätigkeit in den aufstrebenden Volkswirtschaften im bisherigen Ausmaß fortsetzen wird.

Für einen anhaltenden Investitionsboom in den Schwellen- und Entwicklungsländern spricht, dass dort die Bevölkerung weiter wächst. Nur mit einem höheren Kapitaleinsatz, also mit steigenden Investitionen, lässt sich dort der Lebensstandard verbessern. Da die materielle Armut in vielen Ländern nach wie vor hoch ist, würde eine nachlassende Investitionstätigkeit ernste ökonomische und soziale Probleme nach sich ziehen.

Und: Allein in der Infrastruktur besteht für die laufende und die kommende Dekade ein gewaltiger Investitionsbedarf, nicht nur in aufstrebenden Märkten. Die Anpassungslasten infolge knapper werdender Ressourcen und des Klimawandels erfordern ebenfalls weltweit Investitionen. All das spricht dafür, dass es auch in Zukunft Überschüsse in der deutschen Handelsbilanz geben wird.

Die Diskussion über positive und negative Lücken in den Leistungsbilanzen bleibt uns also erhalten. Nur wirtschaftspolitische Brachialgewalt – etwa durch verbindliche Obergrenzen für Leistungsbilanzsalden – könnte die internationale Arbeitsteilung und, als Kollateralschaden, die weltweite wirtschaftliche Entwicklung ausbremsen.

Michael GrömlingWirtschaftsstruktur und LeistungsbilanzIW-Trends 2/2013

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