Mit dem sukzessiven Ausscheiden der besonders geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer aus dem Arbeitsmarkt verändert sich die Bedeutung der erwerbsorientierten Zuwanderung für Deutschland sehr stark. Trug sie bisher vorwiegend dazu bei, Engpässe am Arbeitsmarkt zu vermeiden, wird sie nun immer stärker auch benötigt, um grundlegende gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturen wie das Sozialsicherungssystem zu stabilisieren.
Zur Fachkräftesicherung braucht die Migrationspolitik drei Säulen
Institut der deutschen Wirtschaft (IW)
Mit dem sukzessiven Ausscheiden der besonders geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer aus dem Arbeitsmarkt verändert sich die Bedeutung der erwerbsorientierten Zuwanderung für Deutschland sehr stark. Trug sie bisher vorwiegend dazu bei, Engpässe am Arbeitsmarkt zu vermeiden, wird sie nun immer stärker auch benötigt, um grundlegende gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturen wie das Sozialsicherungssystem zu stabilisieren.
Dabei wäre die Lage bereits heute deutlich kritischer, wären nicht in den letzten Jahren in großem Maße Arbeitskräfte aus anderen Ländern nach Deutschland gekommen. Allerdings erfolgte diese erwerbsbezogene Zuwanderung größtenteils aus den neuen EU-Mitgliedsländern, die selbst stark vom demografischen Wandel betroffen sind, sodass sie sich in dieser Form im nächsten Jahrzehnt kaum fortsetzen dürfte (Geis-Thöne, 2020a). Junge Bevölkerungen mit großen Potenzialen längerfristig wanderungsbereiter Personen finden sich nur in den Ländern außerhalb Europas. Daher muss die deutsche Migrationspolitik ihren Schwerpunkt auf die Gewinnung von Fachkräften aus Drittstaaten und weniger auf die Mobilität innerhalb der EU legen. Erste Erfolge zeigen sich hier bereits bei den Indern.
Dabei ist heute die gegensätzliche Strategie zur Anwerbung der Gastarbeiter in den 1950er- und 1960er-Jahren notwendig. Damals war es folgerichtig, die Zugangswege für die Arbeitskräfte aus dem Ausland zu befristen, da vor dem Hintergrund der Bevölkerungsentwicklung im Kontext des Babybooms absehbar war, dass die Engpässe am Arbeitsmarkt vorübergehender Natur sein würden. Hingegen ist mit dem sukzessiven Ausscheiden der Babyboomer aus dem Arbeitsmarkt in den nächsten Jahren ein immer weiterer Rückgang der inländischen Erwerbsbevölkerung zu erwarten (Grömling et al., 2021). Dieser dürfte auf absehbare Zeit auch kaum zu einem Ende kommen, sodass nun ein möglichst langfristiger Aufenthalt der zuwandernden Arbeitskräfte wünschenswert erscheint.
Eine ähnlich ausgerichtete Migrationspolitik haben Länder wie Kanada und Australien bereits in der Vergangenheit verfolgt. Allerdings waren ihre Ziele dabei anders gelagert. So strebten sie eine Stärkung der Bevölkerung im Allgemeinen und insbesondere die Erschließung dünnbesiedelter Gebiete an, was eher einer Schaffung neuer wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Strukturen als der in Deutschland notwendigen Stabilisierung der bestehenden Strukturen gleichkommt. Damit einhergehend ergeben sich auch andere Anforderungen im Hinblick auf die Integration, was die Übertragbarkeit der Ansätze und Erfahrungen deutlich einschränkt.
Um die Fachkräftebasis nachhaltig zu stabilisieren, sollte die Migrationspolitik nicht nur bei den aktuell zu besetzenden Fachkraftstellen ansetzen, sondern Personen mit guten Integrationsperspektiven den Zugang nach Deutschland auch unabhängig von einem bestehenden Stellenangebot ermöglichen. Zudem sollte die Ausbildung junger Menschen aus dem Ausland mit dem Ziel eines längerfristigen Verbleibs gestärkt werden.
1. Rekrutierung von Personen für aktuell zu besetzende Fachkraftstellen
Seit Inkrafttreten des Fachkräfteeinwanderungsgesetz im März 2020 sind die rechtlichen Zugangswege für Fachkräfte mit bestehendem, qualifikationsadäquatem Arbeitsangebot in Deutschland vergleichsweise liberal geregelt. Zuvor galten vor allem für beruflich Qualifizierte noch deutliche Einschränkungen. Ein Problempunkt bildet allerdings noch der Umgang mit Personen, die zwar über Fachkenntnisse verfügen, diese aber nicht durch einen entsprechenden Bildungsabschluss nachweisen können. Lediglich für IKT-Fachkräfte wurde hier mit §6 BeschV ein alternativer Zugangsweg geschaffen, der auf weitere Berufsfelder ausgedehnt werden sollte.
Zudem kann der auf mehrere Behörden verteilte und stark dezentralisiert organisierte Verwaltungsvollzug hemmend wirken, da er die Prozesse für zuwanderungsinteressierte Personen vergleichsweise schwer nachvollzieh- und planbar macht. Hilfreich wäre eine zentrale Anlaufstelle für die Zuwanderer wie in Kanada. Erste Schritte in diese Richtung wurden mit dem beschleunigten Fachkräfteverfahren gemacht, das bisher allerdings nur von im Ausland rekrutierenden Unternehmen und nicht von den zuwanderungsinteressierten Fachkräften selbst angestoßen werden kann. Hingegen wäre die Einführung eines Punktesystems bei der Rekrutierung von Fachkräften für bestehende Stellen kontraproduktiv, da sie die Verwaltungsverfahren verkomplizieren und die Zahl der Nachweise, die die zuwanderungsinteressierten Personen beibringen müssen, erhöhen würde, was für diese mit einem deutlichen Kosten- und Zeitaufwand verbunden sein kann.
Der Staat sollte die Rekrutierung von Fachkräften aus dem Ausland auch über die Gestaltung des rechtlichen Rahmens hinaus gezielt unterstützen. Anwerbeabkommen, wie in den 1950er- und 1960er-Jahren, dürften heute zwar nicht mehr gebraucht werden, jedoch, ist nach wie vor ein Dialog mit den Herkunftsländern notwendig. Auch sind Informationsangebote für zuwanderungsinteressierte Personen, wie sie etwa die Online-Plattform „Make it in Germany“ zur Verfügung stellt, für einen gelingenden Rekrutierungsprozess sehr wichtig.
2. Zuwanderung von Personen mit guten Integrationsperspektiven ohne Stellenangebot
Bereits heute existieren in Deutschland auf maximal sechs Monate befristete Aufenthaltstitel zur Arbeitsplatzsuche für Akademiker und beruflich qualifizierte Fachkräfte, die nicht an einen Bildungsabschluss im Land gebunden und damit dem Bereich der erwerbsbezogenen Zuwanderung ohne konkretes Stellenangebot zuzuordnen sind. Die Zahl der auf diesem Weg ins Land kommenden Akademiker war mit 703 Erteilungen entsprechender Aufenthaltstitel im Jahr 2019 (Graf, 2020) bisher allerdings sehr überschaubar.
Stark hemmend wirkt, dass die Zuwanderer einen gesicherten Lebensunterhalt nachweisen müssen und gleichzeitig in Deutschland keiner Erwerbstätigkeit nachgehen dürfen, die über ein Probearbeiten hinausgeht. Auch wenn die hierfür notwendigen Mittel aus deutscher Sicht überschaubar erscheinen, ist es in den meisten außereuropäischen Ländern für große Teile der Bevölkerung kaum möglich, sie aufzubringen. Lag das Bruttoinlandprodukt pro Kopf in Deutschland im Jahr 2019 Berechnungen der Vereinten Nationen zufolge bei rund 46.200 US-Dollar, waren es im Schnitt über alle Länder in der Welt nur 11.400 US-Dollar, in Südasien 2.200 US-Dollar und in Afrika 1.900 US-Dollar (UN, 2021). Hinzukommt, dass insbesondere ein Hochschulstudium im Ausland häufig mit hohen Gebühren verbunden ist. Daher sind gerade Hochqualifizierte in der ersten Phase des Erwerbslebens, in der die Wanderungsbewegungen typischerweise erfolgen, eher verschuldet als dass sie Rücklagen gebildet haben.
Bei der Zuwanderung mit qualifikationsadäquatem Stellenangebot ist dies kein Problem, da über dieses ausreichend hohe Einnahmen generiert werden. In allen anderen Fällen führt die Anforderung eines gesicherten Lebensunterhalts jedoch de facto zu einem Ausschluss von Personen aus weniger begüterten Familien und damit zu einer mit Blick auf die Fachkräftesicherung an sich nicht wünschenswerten, starken Einschränkung des Adressatenkreises. Verzichtet man auf sie, bedeutet dies allerdings, dass den Zuwanderern vor dem Hintergrund des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums in Deutschland gegebenenfalls staatliche Transferleistungen, etwa in Form der Asylbewerberleistungen, gewährt werden müssen. Derartige Fälle könnten wiederum die Akzeptanz neuer, nicht an ein konkretes Stellenangebot gebundener Zugangswege für Personen mit guten Integrationsperspektiven in der Bevölkerung stark einschränken, auch wenn ihr gesamtfiskalischer Effekt bei einem geeigneten Auswahlmechanismus in jedem Fall positiv ist.
Daher ist hier auch eine starke Steuerung von staatlicher Seite sinnvoll. Als Mechanismus empfiehlt sich ein Punktesystem, das die Integrationsperspektiven der zuwanderungsinteressierten Personen anhand verschiedener Faktoren, wie Bildungsstand und Deutschkenntnissen misst, in Kombination mit einer Kontingentierung der insgesamt auf diesem Weg ins Land kommenden Personen, die sich nach der demografischen Entwicklung und Lage am Arbeitsmarkt richten sollte. Zu beachten ist dabei, dass alle betrachteten Faktoren von den zuwanderungsinteressierten Personen mit vertretbarem Aufwand rechtssicher nachgewiesen und von der oder den zuständigen Stellen bewertet werden können müssen.
Um das Ziel derartiger neuer Aufenthaltstitel deutlich zu machen und sie besser vermarkten zu können, sollten sie bis zum Übergang in eine dauerhafte Niederlassungserlaubnis Bestand haben und die klassische Erwerbszuwanderung nicht nur um eine Phase der Arbeitsplatzsuche ergänzen, was im Hinblick auf die Bleibeperspektiven an sich gleichrangig sein kann.
3. Ausbildung junger Menschen aus dem Ausland mit dem Ziel eines längerfristigen Verbleibs
Nimmt man zunächst die akademische Bildung in den Blick, sind die Zugangswege an die Hochschule und der aufenthaltsrechtliche Rahmen für den Übergang in den Arbeitsmarkt bereits seit längerem sehr liberal geregelt. Lediglich der Nachweis eines gesicherten Lebensunterhalts stellt auch hier ein Hemmnis dar, wobei ihm allerdings die im internationalen Vergleich ungewöhnliche Gebührenfreiheit der deutschen Hochschulen gegenübersteht. Auch sind die Hochschulen auf die Ausbildung von Personen aus dem Ausland bereits heute sehr gut eingerichtet, sodass sich die Zuwanderung über die Hochschule vorwiegend durch eine gezielte Ansprache potenziell in Frage kommender junger Menschen im Ausland und eine Sensibilisierung Studierender für die Möglichkeit eines längerfristigen Verbleibs noch steigern ließe.
Ganz anders ist die Lage bei der beruflichen Bildung, bei der die Bundesagentur für Arbeit noch immer bescheinigen muss, dass kein geeigneter Inländischer Bewerber für die Ausbildungsstelle zur Verfügung steht. Auch gibt es bisher kaum passende Unterstützungsangebote für zur Ausbildung ins Land kommende Menschen. Letztlich müssen hier komplett neue Strukturen geschaffen werden, wenn die Migration über das Bildungssystem auch im beruflich qualifizierten Bereich einen hohen Beitrag zur Fachkräftesicherung leisten soll.
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