1. Home
  2. Studien
  3. Staatlich administrierte Preise dämpfen Inflation in Deutschland
Melinda Fremerey / Simon Gerards Iglesias / Dan Schläger IW-Kurzbericht Nr. 64 3. August 2022 Staatlich administrierte Preise dämpfen Inflation in Deutschland

Kultur, Verkehr oder öffentliche Daseinsvorsorge: Der Staat nimmt bei einer ganzen Reihe von Produkt- und Dienstleistungsgruppen eine aktive Rolle in der Preisbildung ein. Ohne diese staatliche Einflussnahme auf die Preise wäre der harmonisierte Verbraucherpreisindex am aktuellen Rand ganze zwei Prozentpunkte höher. Der aktuell dämpfende Effekt von staatlich administrierten Preisen auf die Inflation dürfte mit der Einführung des 9-Euro-Tickets zusammenhängen.

PDF herunterladen
Staatlich administrierte Preise dämpfen Inflation in Deutschland
Melinda Fremerey / Simon Gerards Iglesias / Dan Schläger IW-Kurzbericht Nr. 64 3. August 2022

Staatlich administrierte Preise dämpfen Inflation in Deutschland

Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Institut der deutschen Wirtschaft (IW)

Kultur, Verkehr oder öffentliche Daseinsvorsorge: Der Staat nimmt bei einer ganzen Reihe von Produkt- und Dienstleistungsgruppen eine aktive Rolle in der Preisbildung ein. Ohne diese staatliche Einflussnahme auf die Preise wäre der harmonisierte Verbraucherpreisindex am aktuellen Rand ganze zwei Prozentpunkte höher. Der aktuell dämpfende Effekt von staatlich administrierten Preisen auf die Inflation dürfte mit der Einführung des 9-Euro-Tickets zusammenhängen.

Der harmonisierte Verbraucherpreisindex für administrierte Preise (HVPI-AP) bildet die Preisveränderung jener Güter und Dienstleistungen ab, bei denen der Staat einen bedeutenden Einfluss auf die Preisbildung hat. Dabei wird unterschieden zwischen fully administered – die Preishöhe wird direkt von Behörden festgesetzt – und mainly administered – die Preisgestaltung obliegt behördlicher Zustimmung und Regulierung ohne direkte Setzung der Preise. Nicht inkludiert werden Verbraucherpreise, die indirekten Steuern oder Verbrauchsabgaben unterliegen (Tabak, Mineralölprodukte) (Europäische Kommission, 2010). Der Index wird erhoben, um den staatlichen Einfluss auf die allgemeine Preisniveauentwicklung abzuschätzen. In Deutschland werden Preise von Gütern und Dienstleistungen administriert, die in sieben Gruppen eingeteilt werden können:

  • Öffentliche Daseinsvorsorge, wie Wasserversorgung, Abwassergebühren, Müllabfuhr
  • Medizinische Produkte und Leistungen, wie pharmazeutische Erzeugnisse, Allgemeinmedizin, Krankenhausdienstleistungen, Veterinärmedizin und Thermalbäder
  • Personenverkehr und Post, unter anderem der Schienenverkehr, Taxigebühren und Portokosten
  • Kultur, wie Museen und Bibliotheken
  • Bildung, wie Kindergärten und Schulgelder
  • Pflege, wie Seniorenheime und Betreuungsgebühren
  • Dienstleistungen und Verwaltung, wie Preise für Notare, Makler und Bestattungen

Preise aus den Kategorien Pflege von älteren Menschen in Seniorenheimen (1,6 Prozent), Pharmazeutische Erzeugnisse (1,2 Prozent) und der Personenverkehr (1,1 Prozent) fallen dabei mit ihrem Anteil am gesamten HVPI in Deutschland am stärksten ins Gewicht.  Insgesamt liegt das Gewicht der administrierten Preise am gesamten HVPI im Jahr 2022 in Deutschland bei 12,5 und in der EU bei 12,6 Prozent. Verglichen mit anderen Ländern liegen diese Gewichte allerdings im Mittelfeld. Die Schweiz und die Niederlande kommen immerhin auf einen Anteil von 28,7 respektive 23,0 Prozent, während die Gewichte in Spanien und Italien lediglich bei 7,1 und 7,7 Prozent liegen (Eurostat, 2022b).

Bei einer Interpretation der Jahresveränderungen des HVPI-AP muss bedacht werden, dass sich die Zusammensetzung – welche Produktgruppen als Güter mit administrierten Preisen gelten – jährlich ändern kann. Daher kann eine jährliche Änderung im Index durch Preisanpassungen oder durch die Veränderung der berücksichtigten Waren getrieben sein.

Inhaltselement mit der ID 10994
Inhaltselement mit der ID 10995
Inhaltselement mit der ID 10997

Wie die Abbildung zeigt, verläuft der gesamte HVPI für Deutschland bis Oktober 2021 auf gleichem Niveau wie der HVPI ohne administrierte Preise. Im weiteren Verlauf unterscheiden sich die beiden Indizes jedoch und der Gesamt-HVPI liegt unter jenem mit administrierten Preisen. Während bis Oktober 2021 die Differenz der beiden HVPIs einen halben Prozentpunkt ausmacht, entkoppelt sich ab Januar 2022 der Index ohne administrierte Preise bis hin zu einer Differenz von ganzen zwei Prozentpunkten im Juni 2022. Ohne staatlich festgelegte Preise würde der Verbraucherpreisindex für die gesamte Wirtschaft in Deutschland im Juni 2022 nicht 8,2 Prozent verzeichnen, sondern mit 10,2 Prozent im zweistelligen Bereich liegen.

Dieser Unterschied zwischen Gesamt-HVPI und HVPI ohne administrierte Preise beruht auf dem auffällig gesunkenen HVPI-AP, welcher nur administrierte Preise abdeckt. Bis Ende 2021 verläuft dieser Verbraucherpreisindex ohne große Schwankungen und zeigt dann zwei große Veränderungen im Jahr 2022. Das erste Absinken des administrierten Preisindex in Deutschland ab Januar 2022 kann mit einer methodischen Umschichtung in der Güterklasse des Index, welche den Ausschluss der Kategorie „Elektrizität“ beinhaltet, erklärt werden, da diese zuvor einen hohen Anteil am Warenkorb ausmachte. Von Januar bis Mai diesen Jahres verzeichneten die administrierten Preise lediglich Wachstumsraten um die ein Prozent. Im Juni 2022 haben sich die administrierten Preise in Deutschland um 4,2 Prozent verringert - das ist der stärkste Rückgang seit Beginn der Aufzeichnungen der administrierten Preise im Dezember 2001.  Somit lag im Mai die Differenz zwischen dem Gesamt-HVPI und dem HVPI ohne administrierte Preise schon bei 1,1 Prozentpunkten. Im Juni stieg dieses Delta um 0,9 Prozentpunkte auf 2 Prozentpunkte an. Da der Personenverkehr die drittgrößte Kategorie bei den administrierten Preisen in Deutschland darstellt, scheint die Einführung des 9-Euro-Tickets am 01. Juni 2022 – zumindest temporär – diese auffällige disinflationäre Wirkung zu entfalten. Der disinflationäre Effekt taucht zwar in den Monatswerten auf, im Jahresschnitt wird der Effekt aber vermutlich deutlich kleiner ausfallen, da das 9-Euro-Ticket Ende August ausläuft.

Die Entwicklung der Inflation scheint verglichen mit dem aggregierten HVPI auf EU-Ebene ein deutscher Sonderfall zu sein. Im Gegensatz zum gesunkenen deutschen Gesamt-HVPI kann für Europa ein erhöhter gesamter HVPI im Juni 2022 beobachtet werden. Dies könnte an dem stark gesunkenem deutschen Verbraucherpreisindex der staatlich administrierten Preise liegen, denn ab März 2021 divergieren der HVPI-AP der EU und Deutschlands auseinander, mit einer Differenz von über 10 Prozentpunkten am aktuellen Rand.

Bei der aktuell disinflationären Wirkung staatlich administrierter Preise muss allerdings bedacht werden, dass politisch induzierte niedrige staatliche Preise zu Verhaltensänderungen und veränderter Allokation von Gütern, Dienstleistungen und Konsumentscheidungen führen können.

Auf der einen Seite kann es positiv gesehen werden, dass die administrativen Preise gerade in Zeiten hoher Inflation eine preisdämpfende Wirkung von Seiten des Staates entfalten. Auch weil die Volatilität von Preisen unter staatlichem Einfluss geringer auszufallen scheint als jene der am Markt gebildeten Preise, können sie während inflationärer Zeiten preishemmend wirken.  

Auf der anderen Seite sind beim eingeführten 9-Euro-Ticket neben den potenziellen positiven Effekten, wie der Anreizsetzung für eine umweltfreundlichere Mobilität mit öffentlichen Verkehrsmitteln und eine finanzielle Entlastung der Bevölkerung negative Konsequenzen, wie die Überlastung der Infrastruktur zu nennen. Ebenfalls muss der Verwaltungsaufwand für das 9-Euro-Ticket bedacht werden. Neben Programmierungsaufwand von Apps und Automaten, müssen Abo-Kunden und Studierende für die Aktionsmonate die Differenz zu ihrem normalen Ticketpreis gutgeschrieben bekommen. Die kommunalen Spitzenverbände sehen eine vollständige Kompensation aller Aufwendungen, die durch das 9-Euro-Ticket entstehen, durch die zugesicherten 2,5 Mrd. Euro des Bundes kritisch. Zusätzliche Mittelkürzungen (Corona- und Regionalisierungsmittel) und höhere Energiepreise, die bisher noch nicht an die Kunden weitergegeben wurden, könnten in der Summe zu Preiserhöhungen bei kommunalen Verkehrsverbunden und der deutschen Bahn nach Ablauf der Aktion führen (Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände 2022). Darüber hinaus lösen die konsumtiven Ausgaben für das 9-Euro-Ticket nicht das strukturelle Problem des Mangels an Attraktivität des ÖPNVs. Um Menschen langfristig vom ÖPNV zu überzeugen wären Infrastrukturinvestitionen für eine gute Anbindung auch im ländlichen Raum oder zur Entlastung stark beanspruchter Strecken notwendig. Der geschätzte Investitionsstau von über 50 Milliarden Euro bei der Bahninfrastruktur in Deutschland verdeutlicht dieses Problem (Handelsblatt 2019).

Trotz der disinflationären Wirkung staatlich administrierter Preise, vermutlich basierend auf der Einführung des 9-Euro-Tickets, bleibt festzuhalten, dass der Bund angesichts der steigenden Inflation auf gezieltere Entlastungsmaßnahmen, eine Heizkostenpauschale oder eine Steuer- und Beitragsbefreiung von Einmalzahlungen zur Minderung des Drucks auf die Lohnpolitik, zurückgreifen sollte.

PDF herunterladen
Staatlich administrierte Preise dämpfen Inflation in Deutschland
Melinda Fremerey / Simon Gerards Iglesias / Dan Schläger IW-Kurzbericht Nr. 64 3. August 2022

Staatlich administrierte Preise dämpfen Inflation in Deutschland

Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Institut der deutschen Wirtschaft (IW)

Mehr zum Thema

Artikel lesen
Die deutsche Wirtschaft verharrt in der Stagnation
Michael Grömling in den VDI-Nachrichten Gastbeitrag 17. April 2024

Konjunkturampel: Die deutsche Wirtschaft verharrt in der Stagnation

Für die deutsche Industrie ist keine Trendwende in Sicht – anders als für die Dienstleistungsbranche, schreibt IW-Konjunkturexperte Michael Grömling für die VDI-Nachrichten.

IW

Artikel lesen
Michael Grömling IW-Report Nr. 20 13. April 2024

IW-Konjunkturumfrage Frühjahr 2024: Unternehmen sehen keine Erholung in 2024

Die Ergebnisse der IW-Konjunkturumfrage vom Frühjahr 2024 zeigen, dass sich die Geschäftslage der deutschen Unternehmen seit dem Herbst 2023 nicht verbessert hat.

IW

Mehr zum Thema

Inhaltselement mit der ID 8880