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Hagen Lesch / Christoph Schröder IW-Report Nr. 22 12. April 2023 Stellungnahme zur vierten Anhörung zu den Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns: Vertrauen in die Mindestlohnanpassung wiederherstellen

Die Bundesregierung hat mit Ihrer Entscheidung, den gesetzlichen Mindestlohn zum 1. Oktober 2022 per Gesetz auf 12 Euro je Stunde zu erhöhen, in die Tarifautonomie eingegriffen und das Vertrauen in den Anpassungsmechanismus gestört.

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Vertrauen in die Mindestlohnanpassung wiederherstellen
Hagen Lesch / Christoph Schröder IW-Report Nr. 22 12. April 2023

Stellungnahme zur vierten Anhörung zu den Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns: Vertrauen in die Mindestlohnanpassung wiederherstellen

Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Institut der deutschen Wirtschaft (IW)

Die Bundesregierung hat mit Ihrer Entscheidung, den gesetzlichen Mindestlohn zum 1. Oktober 2022 per Gesetz auf 12 Euro je Stunde zu erhöhen, in die Tarifautonomie eingegriffen und das Vertrauen in den Anpassungsmechanismus gestört.

Während die Mindestlohnkommission (MLK) zwischen 2016 und 2020 weitgehend einer regelgebundenen Anpassung folgte (Lesch/Schneider/Schröder, 2021a; dies. 2021b), stellt die politische Intervention einen diskretionären Eingriff dar. Dieser wirft verschiedene Probleme auf:

  • Erstens wurde damit Tür und Tor geöffnet, um (insbesondere vor Wahlkämpfen) unter den politischen Parteien einen Überbietungswettbewerb hinsichtlich des als angemessen zu betrachtenden Mindestlohns anzufachen.
  • Zweitens können die Tarifvertragsparteien nicht mehr darauf vertrauen, dass sich die Mindestlohnentwicklung nachlaufend an der Tariflohnentwicklung orientiert. Das erschwert die Einschätzung und Antizipierung künftiger Mindestlohnanpassungen. Dies wiederum macht es schwer, länger laufende Tarifverträge zu schließen, die den Betrieben Planungssicherheit geben. Die Laufzeit eines Tarifvertrags ist ein zentrales Instrument der Kompromissfindung. Indem längere Laufzeiten mit den Risiko verbunden sind, dass der Mindestlohn Tariflöhne aufgrund kaum vorhersehbarer, diskretionärer Anpassungen überholt und damit faktisch verdrängt, erschwert der politische Interventionismus die tarifpolitische Kompromissfindung.
  • Drittens hat die Bundesregierung ihren Eingriff in die Tarifautonomie damit begründet, dass der Mindestlohn eine Art „Living Wage“ darstellen sollte, der es Arbeitnehmern erlaubt, über das bloße Existenzminimum hinaus am sozialen und kulturellen Leben teilzuhaben und für unvorhergesehene Ereignisse vorzusorgen (Lesch/Schröder, 2022, 8; Lesch, 2023, 58; Schröder, 2021, 4 ff.). Auch im europäischen Kontext werden Mindestlöhne gefordert, die der Idee eines „Living Wage“ entsprechen. Allerdings stellen die in der Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union vom 19. Oktober 2022 genannten Referenzwerte von 60 Prozent des Bruttomedianlohns und 50 Prozent des Bruttostundenlohns lediglich eine „Empfehlung und keine zwingende Vorschrift dar“ (Kovács, 2023, 71). In das nationale Mindestlohngesetz haben solche Referenzwerte keinen Eingang gefunden. Dort wird in § 9 (2) als Orientierung nach wie vor empfohlen, den Mindestlohn nachlaufend an die Tariflohnentwicklung anzupassen. Im Koalitionsvertrag der Ampelkoalition heißt es, dass sich die Bundesregierung „unter Achtung der europäischen Kompetenzordnung sowie unterschiedlicher Systeme und Traditionen von Arbeitsbeziehungen in den Mitgliedstaaten“ für verbindliche Mindeststandards einsetzt, „wie sie in Deutschland mit dem neuen Mindestlohngesetz nach Beschluss gelten werden“ (SPD/Grüne/FDP, 2021, 55). Die Tatsache, dass ein expliziter Bezug zum „Living Wage“ fehlt, schafft jedoch keine Klarheit, sondern Unsicherheit. Denn es bleibt unklar, welche Erwartungen die Politik an den künftigen Orientierungsmaßstab bei Mindestlohnanpassungen stellt.
  • Viertens hat die Mindestlohnerhöhung auf 12 Euro die Tarifvertragsparteien in einer Reihe von Branchen vor sehr große Herausforderungen gestellt (Lesch, 2023, 56). So wurden etwa im Gebäudereinigerhandwerk, in der Arbeitnehmerüberlassung oder im Bäckerhandwerk vorgezogene Tarifverhandlungen geführt, um eine Verdrängung von Tariflöhnen durch den gesetzlichen Mindestlohn zu verhindern. Das Statistische Bundesamt hat festgestellt, dass mit der Erhöhung auf 12 Euro eine „deutlich stärkere Erhöhung der tariflichen Verdienste“ in den Leistungsgruppen der an- und ungelernten Arbeitnehmer einhergeht (Statistisches Bundesamt, 2023). Im vierten Quartal 2022 stiegen die Tariflöhne (ohne Sonderzahlungen) bei ungelernten Arbeitskräften im Vergleich zum dritten Quartal um knapp 4,8 Prozent, bei gelernten Kräften um 1,2 Prozent und bei Fachkräften um 0,3 Prozent. Das impliziert eine extreme Stauchung der Lohnstruktur und stellt die Tarifparteien vor große Herausforderungen. Das Institut der deutschen Wirtschaft hat in Zusammenarbeit mit dem Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut in der Hans Böckler Stiftung im Auftrag der Mindestlohnkommission ein Gutachten erstellt, das die Problematik in verschiedenen Branchen analysiert und von der Mindestlohnkommission veröffentlicht wird (Bispinck et al., 2023).

In der vorliegenden Stellungnahme wird überlegt, wie sich das Vertrauen in den institutionellen Prozess der Mindestlohnanpassung wiederherstellen lässt. Die Mindestlohnkommission muss sich vor ihrem nächsten Anpassungsbeschluss eine neue Geschäftsordnung geben, in der das Anpassungsverfahren konkretisiert wird. Im Mittelpunkt der folgenden Stellungnahme steht daher die Frage, woran sich künftige Mindestlohnanpassungen orientieren sollen. Abschnitt 2 geht auf die Frage ein, welcher Tariflohnindex – mit oder ohne Sonderzahlungen – angesichts der großen Bedeutung tariflicher Einmalzahlungen (Corona-Prämien, Inflationsausgleichsprämien) als Orientierungsmaß einer nachlaufenden Tariflohnentwicklung herangezogen werden sollte. Abschnitt 3 analysiert, inwieweit der Mindestlohn armutsvermeidend wirkt und inwiefern ein Mindestlohn von 12 Euro je Stunde Anfang 2024 – für diesen Zeitpunkt dürfte die nächste Mindestlohnanpassung zu erwarten sein – einem „Living Wage“ entspricht. Abschnitt 4 enthält Empfehlungen zum Anpassungsmechanismus.

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