Die EU steht vor dem Dilemma von hohen Ausgabenbedarfen aufgrund der grünen und digitalen Transformation sowie der geopolitischen Lage einerseits und einer bereits sehr hohen Staatsverschuldung in einigen Mitgliedstaaten andererseits.
Dilemma der EU-Fiskalpolitik: Hoher Ausgabenbedarf und Schuldentragfähigkeit
Institut der deutschen Wirtschaft (IW)
Die EU steht vor dem Dilemma von hohen Ausgabenbedarfen aufgrund der grünen und digitalen Transformation sowie der geopolitischen Lage einerseits und einer bereits sehr hohen Staatsverschuldung in einigen Mitgliedstaaten andererseits.
Tragfähige Finanzen sind Grundvoraussetzung für die Umsetzung der strategischen Ziele der EU. Jedoch könnte die diskutierte Reform der EU-Fiskalregeln zu einer laxeren Fiskalpolitik führen. Eine einfache Schuldentragfähigkeitsanalyse zeigt, dass dies vor allem in Frankreich und Italien Gefahren für die Finanzstabilität bergen würde.
Nach der Corona-Pandemie und inmitten einer Energiekrise steht die Europäische Union (EU) vor enormen Herausforderungen. Gleichzeitig die Hauptziele der EU – Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Investitionen in die Transformation sowie die Tragfähigkeit der öffentlichen Verschuldung – zu erreichen, entspricht einer Quadratur des Kreises. Auf der einen Seite gibt es einen hohen Ausgabenbedarf für wichtige Ziele wie die grüne und digitale Transformation, die Verteidigung sowie die Reduzierung von Energie- und Lieferkettenabhängigkeiten. Auf der anderen Seite begrenzen hohe öffentliche Schulden den fiskalischen Spielraum und es besteht die Gefahr, dass der Staat mit immer mehr Aufgaben gerade auch in der Industriepolitik überfordert wird. Der Zinsanstieg hat diesen Zielkonflikt noch verschärft.
Priorität: Staatsschuldenkrise vermeiden
Die Haushaltslage ist somit angespannt und dies dürfte mittelfristig auch so bleiben. Es ist fraglich, wie der Ausgabenbedarf finanziert werden kann, ohne die Tragfähigkeit der Staatsverschuldung zu gefährden, insbesondere in hoch verschuldeten Ländern.
Sollte sich die Finanzpolitik als zu lax erweisen, um tragfähige Finanzen zu gewährleisten, könnte es zu einer Staatsschuldenkrise kommen – und sehr wahrscheinlich auch zu einer breiteren Finanzkrise. Eine solche Krise würde die EU erheblich schwächen und die genannten Ziele grundlegend untergraben. Daher muss die Vermeidung einer Staatsschuldenkrise die oberste Priorität der EU sein. Die zuvor genannten Ziele können nur verfolgt werden, wenn die Tragfähigkeit der öffentlichen Verschuldung nicht gefährdet wird.
Aus diesem Grund ist das ordnungsgemäße Funktionieren des Stabilitäts- und Wachstumspaktes (SWP) ein zentrales Anliegen der EU. In seiner derzeitigen Form ist der SWP für diesen Zweck nicht mehr geeignet. Eine solide Reform des SWP, die auch hoch verschuldeten Mitgliedstaaten hilft, fiskalische Nachhaltigkeit zu erreichen und aufrechtzuerhalten, ist daher essenziell.
SWP-Reformvorschlag: Licht und Schatten
Vor dem Hintergrund der Reformdebatte hat die Europäische Kommission im April 2023 ihren Gesetzesvorschlag für eine Reform des SWP vorgelegt. Während dieser vorsieht, dass die Maastrichtkriterien von einer maximalen Staatsschuldenquote von 60 Prozent und einer Defizitquote von 3 Prozent erhalten bleiben, würde die aktuelle Schuldenabbauregel, die sogenannte 1/20-Regel, abgeschafft werden. Die zentrale Veränderung besteht in der Einführung von länderspezifischen fiskalisch-strukturellen Plänen, deren Steuerungsgröße die Nettoprimärausgaben wären und die einen Zeitraum von vier bis sieben Jahren umfassen. Um die Plausibilität der Pläne zu beurteilen, würde die Europäische Kommission Schuldentragfähigkeitsanalysen durchführen. Als Leitplanken fordert die Kommission, dass:
- die Staatsschuldenquote am Ende des Zeithorizonts der Pläne niedriger sein muss als zu Beginn,
- Länder in einem Verfahren wegen übermäßigen Defizits ihr Defizit jährlich um 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) abbauen müssen, solange das Defizit über 3 Prozent des BIP liegt.
Obwohl der Reformvorschlag in der Theorie wichtige Vorzüge hat, wie etwa die mittelfristige Ausrichtung der Pläne, gibt es Probleme, die für seine praktische Anwendung von Bedeutung sein werden. Dies ist vor allem der große Ermessensspielraum der Kommission, der auch durch die Annahmeabhängigkeit der Schuldentragfähigkeitsanalysen ermöglicht wird. Er könnte dazu beitragen, dass sich die Finanzpolitik in den Mitgliedstaaten laxer entwickelt als derzeit angenommen wird.
Schuldentragfähigkeitsanalyse
Um zu beurteilen, wie sich weniger ehrgeizige Konsolidierungsbemühungen auf die Finanzpolitik in der EU auswirken würden, führen wir eine einfache Analyse der Tragfähigkeit der Staatsverschuldung durch.
Die Staatsschuldenquote misst das Verhältnis aus Staatsverschuldung und Bruttoinlandsprodukt. Steigt der durchschnittliche Nominalzins auf die Staatsverschuldung, so steigt auch die Staatsschuldenquote. Steigt die Wachstumsrate des nominalen BIP oder verbessert sich der Primärsaldo (Haushaltsüberschuss ohne Zinszahlungen), so sinkt die Staatsschuldenquote.
Die Simulationen werden für drei Szenarien durchgeführt: ein Basisszenario, ein mittleres Szenario und ein pessimistisches Szenario. Bei allen drei Szenarien orientieren sich die Annahmen zum nominalen Wachstum eng an den Prognosen des IWF für die nächsten Jahre. Die Szenarien unterscheiden sich in ihren Annahmen über die Entwicklung der (primären) Haushaltssalden und der durchschnittlichen Zinssätze für die öffentlichen Schulden. Das pessimistische Szenario geht im Vergleich zum Basisszenario, das sich ebenfalls weitgehend auf Projektionen des Internationalen Währungsfonds (IWF) stützt, von einer deutlich laxeren Fiskalpolitik und infolgedessen auch von höheren Risikoprämien auf die Zinsen aus. Das mittlere Szenario liegt hinsichtlich des finanzpolitischen Kurses zwischen dem Basisszenario und dem pessimistischen Szenario.
Die Abbildung zeigt den Pfad der simulierten Staatsschuldenquoten in den sechs betrachteten Ländern.
- Frankreich gibt Anlass zur Sorge. Ausgehend von 113 Prozent des BIP (2021) steigt die Staatsschuldenquote in der Simulation aufgrund geringer Konsolidierung und relativ schwachen Wachstums selbst im Basisszenario deutlich auf über 129 Prozent, im pessimistischen Fall sogar auf mehr als 147 Prozent des BIP (2030).
- Auch in Italien ist die Lage angespannt. Ausgehend von 151 Prozent des BIP im Jahr 2021 gelingt es auch im Basisszenario – vor allem wegen schwachen Wachstums und relativ hohen Zinsen – nicht, die Staatsschuldenquote zu senken. Im pessimistischen Szenario steigt sie in der Simulation sogar auf über 168 Prozent des BIP im Jahr 2030.
- In Spanien und Deutschland sieht es besser aus. Im Basisszenario sinkt die Staatsschuldenquote, in Deutschland sogar deutlich. Im pessimistischen Szenario ergibt sich aber in beiden Ländern bis 2030 ein Anstieg, in Spanien um fast 10 Prozentpunkte.
- Der Ausblick für Griechenland und Portugal ist erstaunlich positiv. In beiden Ländern sinkt die Staatsschuldenquote in allen drei Szenarien. Selbst im pessimistischen Fall ergibt sich in Griechenland ein Rückgang von rund 30 und in Portugal von rund 20 Prozentpunkten bis 2030. Dahinter steht in beiden Ländern eine relativ disziplinierte Finanzpolitik, unterstützt in Griechenland durch niedrige Zinsen und in Portugal durch relativ hohes Wachstum.
Ziel: Fiskalische Nachhaltigkeit sichern
Die Beispiele Griechenland und Portugal zeigen, dass es auch in ehemals anfälligen Ländern möglich ist, eine starke Haushaltsposition mit Wirtschaftswachstum zu kombinieren – da beide Länder weiterhin von umfassenden Reformen profitieren.
Doch für Länder mit einer schwächeren Haushaltslage zeigt unsere Schuldentragfähigkeitsanalyse, dass ein Mangel an Konsolidierungsbemühungen die öffentliche Schuldenquote auf einen deutlich ansteigenden Pfad bringen würde. Dann könnte der finanzpolitische Kurs dieser Länder von den Finanzmärkten nicht mehr als nachhaltig angesehen werden. In unseren pessimistischeren Szenarien wären sämtliche betrachtete Mitgliedstaaten nicht in der Lage, das Maastrichtkriterium einer Schuldenquote von maximal 60 Prozent des BIP einzuhalten, die auch noch Teil des Reformvorschlags der Europäischen Kommission ist. Schlimmer noch, sie entfernen sich von diesem Ziel. Es braucht daher einen SWP mit klaren, auch quantitativen Leitplanken.
Die Ergebnisse verdeutlichen, dass Vorsicht geboten ist, selbst noch so wünschenswerte Investitionen mit neuen Staatsschulden zu finanzieren, wenn nicht gesichert ist, dass diese wachstumsfördernd sind. Das gilt weitgehend ebenso für Ausgaben für die grüne Transformation, Industriepolitik und Verteidigung. Generelle Ausnahmen für Investitionen im Sinne einer sogenannten goldenen (oder grünen) Regel sind daher zu Recht in dem Vorschlag der Kommission nicht vorgesehen.
Als Fazit ist festzuhalten: Eine solide SWP-Reform, die auch hoch verschuldeten Mitgliedstaaten hilft, fiskalische Nachhaltigkeit zu erreichen und aufrechtzuerhalten, ist ein wichtiger Baustein, um das Dilemma der EU-Fiskalpolitik zu mindern.
(Dieser Kurzbericht basiert auf der Studie „Reforming Economic and Monetary Union: Balancing Spending and Public Debt Sustainability”, Martens Centre for European Studies, Policy Brief, June 2023, Brüssel / Köln. Dort finden Sie alle Angaben zu den Annahmen der Szenarien)
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