Wie stabil ist die Gesellschaft inmitten der vielen Krisen, die uns derzeit beschäftigen? Darüber spricht IW-Verhaltensökonom Dominik Enste mit dem Nordkurier.
Gesellschaft: „Für eine große Industrienation haben wir eine sehr gute Lebenszufriedenheit“
Es scheint, als würden wir derzeit von einer Krise in die nächste rutschen. Wie wirkt sich das auf das Gefühl von Sicherheit und Stabilität in der Gesellschaft aus?
Wir Menschen haben die Tendenz, uns schnell aufzuregen, sind aber gleichzeitig mit einer sehr hohen Adaptionsfähigkeit gesegnet. Das heißt: Wir passen uns widerwillig, aber schnell an. Das ist evolutionär bedingt, liegt uns also sozusagen in den Genen. Wir wollen, dass alles beim Alten bleibt, aber wenn sich etwas ändert, vergessen wir schnell und passen uns an. Denn das war schon immer für das Überleben notwendig.
„Global betrachtet ging es den Menschen im Durchschnitt noch nie so gut wie heute.“
Wir lernen nicht unbedingt schnell und möchten am liebsten den Status quo erhalten, aber arrangieren uns mit den neuen Gegebenheiten. Eine Krise muss sich daher nicht dauerhaft negativ auf das Gefühl von Sicherheit und Stabilität auswirken. Viel wichtiger ist, wie wir als Gesellschaft damit umgehen.
Das heißt, dass sich eine Gesellschaft auch an ständige Krisen gewöhnt?
Ja. Denken Sie nur an die Neuseeländer, die sich auf die Bedrohung durch ständige Erdbeben eingestellt haben. Aber auch in Deutschland, oder in den westlichen Industriestaaten generell, haben wir eigentlich beste Voraussetzungen und Ressourcen, um mit Krisen umzugehen. Wir sind besser drauf vorbereitet als in früheren Jahren, uns stehen bessere Technologien zur Verfügung. Insofern sind wir auch heute besser in der Lage, auf die Klimakrise zu reagieren.
Global betrachtet ging es den Menschen im Durchschnitt noch nie so gut wie heute. Wohlstand, Lebenserwartung, BIP – alles ist auf dem höchsten Stand in der Geschichte. Das trifft natürlich nicht auf alle Länder und alle Menschen zu, die Lage in der Ukraine, Afghanistan oder Libyen ist eine andere als in Deutschland oder in Finnland, das gerade zum Land mit der glücklichsten Bevölkerung der Welt gekürt wurde. Aber global betrachtet sind all die Werte, die Gesellschaften Sicherheit und Stabilität geben und damit zur Lebenszufriedenheit der Bevölkerung beitragen, auf Höchstständen.
Auch in Deutschland? Es scheint, als würde sich hierzulande die Uhr eher zurückdrehen: die Mittelschicht schrumpft, die Altersarmut wächst, und besonders in Ostdeutschland macht sich eine zunehmende Unzufriedenheit mit der Politik breit.
Selbstverständlich läuft nicht alles perfekt, doch wenn es um die generelle Lebenszufriedenheit der Bürger geht, dann steht Deutschland besser da als früher. Auch in Ostdeutschland geht es den Bürgern besser als vor 20 Jahren. Das zeigen umfangreiche Studien aus dem Jahr 2020, in denen die Lebenszufriedenheit der Bürger in verschiedenen Ländern über einen Zeitraum von zwei Jahrzehnten gemessen wurde.
Deutschland lag nach den skandinavischen Ländern auf Platz 6, und es ließ sich ein solider Aufwärtstrend wahrnehmen. Auf einer 100-Punkte-Skala holte Deutschland im Jahr 2000 noch 60 Punkte, im Jahr 2020 waren es schon 74. Das ist deutlich besser, als man erwarten würde, wenn man sich lediglich die Presseberichterstattung ansieht.
Für eine große Industrienation haben wir eine sehr gute Lebenszufriedenheit. Und die Mittelschicht ist seit Jahren stabil und nicht geschrumpft, und auch bei der Bekämpfung der absoluten Armut gibt es gute Fortschritte. Aber das bedeutet natürlich nicht, dass es keine enttäuschten Bürger gibt.
Diese Enttäuschung könnte durch die Corona-Pandemie noch einmal schlimmer geworden sein. Vor allem bei der Wirtschaft im Osten, mit einem größeren Niedriglohnsektor und einer höheren Abhängigkeit von Tourismus, Gastgewerbe und dem Dienstleistungssektor.
Das ist richtig, allerdings muss man auch hier unterscheiden. Wenn man sich die Entwicklung der Lebenszufriedenheit ansieht, dann gehörten Brandenburg oder Sachsen in der Pandemie zu den Gewinnerländern, Mecklenburg-Vorpommern wiederum zu den Verliererländern. Das heißt: Brandenburger sind glücklicher geworden, Bürger in MV unglücklicher.
„Für eine große Industrienation haben wir eine sehr gute Lebenszufriedenheit.“
Insgesamt hat die Krise die innerdeutschen Unterschiede aber relativiert und angeglichen. Insgesamt haben wir Corona gut überstanden. Auch wenn es manchmal anders scheint: Die Pandemie hat nicht zu einer Spaltung der Gesellschaft geführt, wie manche befürchteten.
Sind Sie sich da sicher? Für Teile der Bevölkerung, zum Beispiel Ungeimpfte oder Gegner der Corona-Maßnahmen, hat es sich zeitweise schon so angefühlt, als sollten sie gezielt ausgegrenzt werden.
Sicherlich gibt es in einer großen Industrienation Menschen mit unterschiedlichen Meinungen, mit denen mal sanfter, mal roher umgegangen wird. Doch wenn es um die Gefühle von Sicherheit und Stabilität in einem Land geht, dann blickt man nicht auf einzelne Meinungen, sondern auf Milieus. Mitglieder eines Milieus teilen zum Beispiel den sozioökonomischen Hintergrund, eine Mentalität oder bestimmte Werte.
„Die Gesellschaft ist nicht gespalten, in dem Sinne, dass sich diese Milieus feindselig und vollkommen unversöhnlich gegenüberstehen.“
Und hier sieht man, dass wir in Deutschland zwar eine ausdifferenzierte Gesellschaft haben – das heißt, dass es viele verschiedenen Milieus gibt, die sich teils deutlich voneinander unterscheiden. Doch die Gesellschaft ist nicht gespalten, in dem Sinne, dass sich diese Milieus feindselig und vollkommen unversöhnlich gegenüberstehen.
Ja, bei bestimmten Streitfragen kochen die Emotionen hoch. Aber darüber hinaus tolerieren wir einander weitestgehend und es gibt keine Spaltung in zwei Lager wie beispielsweise in den USA.
Man sollte also nicht von Streitfragen auf den Zustand der Gesellschaft schließen, sondern vom Alltagsleben?
So ist es. Zum Beispiel finden Sie es vielleicht nicht toll, dass Ihre Nachbarn zu bestimmten kulturellen Anlässen bis spät in die Nacht auf dem Balkon grillen. Aber grundsätzlich tolerieren Sie es, mal ein bisschen mehr, mal ein bisschen weniger. Und umgekehrt toleriert Ihr Nachbar Ihre Lebensweise.
„Tatsächlich ist es sogar so, dass in Deutschland deutlich weniger diskriminiert wird als in den meisten anderen Ländern.“
Zusammenhalt bedeutet nicht, dass man alles respektieren, wertschätzen oder gut finden muss. Tatsächlich ist es sogar so, dass in Deutschland deutlich weniger diskriminiert wird als in den meisten anderen Ländern; selbst wenn es eben nicht perfekt ist und wir uns noch mehr Gleichbehandlung wünschen. In diesem Sinne ist der Zusammenhalt in Deutschland viel stärker, als man vermuten würde. Und das stärkt eine Gesellschaft von innen heraus.
Viele Bürger, gerade im Osten, nehmen das nicht so wahr. Ihnen fehlt dieser Zusammenhalt.
Das System in der DDR war unfreiheitlich organisiert, aber die Bürger standen sich generell näher, da die Gesellschaft weniger kapitalistisch und wettbewerbsorientiert war. Gerade für Menschen, die subjektiv enttäuscht sind, spricht das die Sehnsucht nach Geborgenheit an — die wird in einer Gesellschaft mit weit über 80 Millionen Bürgern mit vielen unterschiedlichen Gruppen und Milieus natürlich nicht erfüllt.
Freiheit bedingt immer Unsicherheit. Durch die Vielzahl an Optionen und Möglichkeiten ist das Leben anstrengender. Aber ob man wirklich die alte Zeit zurück haben will, glaube ich eher nicht.
Vielleicht hilft es, hier zwischen emotional „warmen“ und „kalten“ Gesellschaften zu unterscheiden. Eine emotional warme Gesellschaft, wie sie zum Beispiel in Italien existiert, mag das Gefühl von Geborgenheit stärken. Doch der Grund für diese Wärme ist ganz einfach, dass vieles auf der staatlichen Ebene nicht funktioniert. Die Bürger sind auf die Fürsorge der anderen angewiesen, weil der Staat sie nicht leisten kann. Mit anderen Worten: Eine Gesellschaft muss nicht warm sein, um gut zu funktionieren.
Im Gegenteil: Eine Gesellschaft kann erst dann „erkalten“, auch wenn sich das unmenschlich anhört, wenn sie gut funktioniert. Wenn es Demokratie gibt, soziale Gerechtigkeit, eine niedrige Arbeitslosigkeit, ein funktionierendes Renten– und Gesundheitssystem, Gleichheit vor dem Gesetz und so weiter. Und diese Aspekte wiederum sind für den Zusammenhalt ungemein wichtig.
Sind Ostdeutsche deswegen weniger glücklich als Westdeutsche?
Nein, das würde ich nicht sagen. Gerade in Bezug auf die wissenschaftliche Untersuchung von Lebenszufriedenheit passt die grobe Unterscheidung in zwei deutsche Teile nicht mehr. Im Osten gibt es pulsierende Zentren wie die Stadt Leipzig, die ausgezeichnete Perspektiven haben. Andersherum gibt es auch im Westen Gebiete mit sehr schlechten Zukunftsperspektiven. Man denke zum Beispiel an Bremen, das Saarland oder an viele Ruhrpottstädte wie Gelsenkirchen. Deswegen denke ich, dass wir vom alten Ost-West-Denken wegkommen müssen und uns mehr die regionalen Perspektiven ansehen sollten.
„Wenn Sie glücklich werden wollen, sollten Sie vermeiden, lange Strecken zu pendeln.“
Übrigens gibt es auch in Westdeutschland eine Landflucht. Doch die ist zum Beispiel in Frankreich, wo sich alles auf Paris und vielleicht noch Marseille konzentriert, viel dramatischer als in Deutschland. Es ist purer Wahnsinn, wie viele Zentren wir in Deutschland haben, in denen – oder in deren Nähe – man wirtschaftlich gut leben kann.
Das heißt nicht, dass alles gut ist und man es nicht besser machen kann. Aber wir stehen doch besser da als die meisten anderen Länder. Da könnten wir manchmal ruhig ein bisschen dankbarer sein.
Man sagt ja, dass Menschen auf dem Land glücklicher sind. Lässt sich das wissenschaftlich belegen?
So grundsätzlich lässt sich das nicht sagen. Generell muss man zunächst fragen, was Gesellschaften insgesamt glücklich macht. Das sind zum Beispiel vertrauenswürdige Institutionen, Gesundheit, ein gutes Einkommen, eine lange Demokratieerfahrung. All dies ist meist nicht abhängig davon, ob jemand in der Stadt oder auf dem Land wohnt.
In der Stadt gibt es vielleicht bei den Konsum- oder Freizeitmöglichkeiten oder dem Arbeitsplatzangebot Vorteile, auf dem Land wiederum könnte die Naturerfahrung ausgeprägter, die Mieten geringer und das soziale Miteinander intensiver sein. In der Breite gleicht sich das aus.
„Wenn mir der Wirtschaftsminister sagt, wann ich wie die Heizung aufzudrehen oder wie ich mich zu waschen habe, dann fühle ich mich wie ein kleines Kind.“
Hier aber ein persönlicher Tipp: Wenn Sie glücklich werden wollen, sollten Sie vermeiden, lange Strecken zu pendeln. Denn Studien haben gezeigt, dass sich die Menschen an fast alles gewöhnen – außer an Arbeitslosigkeit und ans Pendeln.
Wenn Sie Politiker wären und einen Vertrauensverlust in der Bevölkerung spürten: Was würden Sie als Erstes verändern, um den Bürgern das Vertrauen in die Institutionen und die Politik zurückzugeben?
Vertrauen erhält nur, wer Vertrauen schenkt. Wenn ich Politiker wäre, dann würde ich zunächst einmal darauf vertrauen, dass die Menschen schon das Richtige tun. Nehmen Sie die Pandemie oder die Energiekrise: Wenn mir die Kanzlerin sagt, wie ich mir die Hände zu waschen habe oder dass ich beim Parkspaziergang eine Maske tragen soll, dann fühle ich mich bevormundet. Wenn mir der Wirtschaftsminister sagt, wann ich wie die Heizung aufzudrehen oder wie ich mich zu waschen habe, dann fühle ich mich wie ein kleines Kind.
So etwas zerstört Vertrauen. Und je mehr die Politik die Menschen versucht zu kontrollieren, desto weniger Vertrauen erhält sie von den Bürgern zurück. Selbstverantwortung mobilisieren, in dem man einen klaren, einfachen staatliche Rahmen vorgibt, ist ein guter Ansatz für mehr Vertrauen.
Das Nordkurier-Interview finden sie hier.
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