1. Home
  2. Presse
  3. Angst vor dem Osten
Michael Hüther in der Welt Interview 2. Januar 2011

Angst vor dem Osten

Im Mai2011 fallen die Grenzen für Arbeitnehmer aus acht osteuropäischen Ländern. Menschen aus Polen, Tschechien, der Slowakei, Ungarn, Slowenien, Estland, Lettland und Litauen haben dann freien Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt. Die Weltsprach mit Klaus Wiesehügel, Vorsitzender der Gewerkschaft IG Bauen-Agrar-Umwelt, und IW-Direktor Michael Hüther über die Folgen.

Herr Wiesehügel, wenn nun die letzten Grenzen für osteuropäische Arbeitnehmer fallen– ist das gut für Deutschland?

KLAUS WIESEHÜGEL: Das ist vor allem schlecht für die deutschen Arbeitnehmer, weil kaum ausgebildete, billige Arbeitskräfte aus Osteuropa die Löhne hierzulande drücken werden. Aber auch die Verbraucher werden leiden, denn die Qualität der Arbeit wird schlechter. Das nennen wir dann Pfusch am Bau.

Herr Hüther, freuen sich die Unternehmen schon auf die billigen Arbeitskräfte aus Osteuropa?

MICHAEL HÜTHER: Dass die Grenzen für osteuropäische Arbeitnehmer fallen, stärkt die europäische Einheit und wir sehen gerade, wie wichtig das ist. Es hilft aber auch der deutschen Wirtschaft, denn wir haben durch die demografische Entwicklung einen Fachkräftemangel, der sich in den kommenden Jahren noch verschärfen wird. Wir verlieren zudem jedes Jahr 2.500 bis 3.000 gut ausgebildete Arbeitnehmer und ...

WIESEHÜGEL: Weil die massenhaft auswandern und ins Ausland gehen, um dort zu arbeiten! Denn hier in Deutschland werden sie für ihre Arbeit nicht entsprechend entlohnt. In keinem anderen Industrieland sind die Löhne in den vergangenen Jahren so langsam gestiegen wie hier– wir sind ein Niedriglohnland geworden und können deshalb die guten Arbeitskräfte nicht mehr halten.

HÜTHER: Das ist Unsinn! Deutschland ist im internationalen Vergleich immer noch ein Hochlohnland. Wir haben die Lohnzurückhaltung gebraucht, um wieder wettbewerbsfähig zu werden. Das hat uns in der Krise geholfen und stärkt die Wirtschaft jetzt im Aufschwung. Ich gebe Ihnen aber Recht: Die niedrigen Einkommen sinken und die Schere zwischen hohen und niedrigen Löhnen weitet sich, so dass wir Geringqualifizierten mehr Jobs anbieten können.

WIESEHÜGEL: Das ist schön formuliert, dafür, dass ein großer Teil der Beschäftigten absackt und in prekären Jobs arbeitet: zum Beispiel in befristeten Arbeitsverhältnissen oder als 400-Euro-Kräfte. Inzwischen haben wir in Deutschland zehn Millionen Menschen, die so arbeiten und nicht genug verdienen, um davon zu leben. Das ist keine Minderheit mehr; das ist beinahe ein Viertel aller Beschäftigten!

Herr Hüther, übertreiben es die Unternehmen mit dem Kostendrücken?

HÜTHER: Man kann keinem Unternehmen vorwerfen, wenn es versucht, kostengünstig zu produzieren. Sie blasen das Problem auf. Die flexiblen Erwerbsformen gibt es verstärkt seit 2003. Untersuchungen aus unserem Institut zeigen, dass diese neuen Erwerbsformen nicht zulasten der Normalarbeitsverhältnisse gehen, sondern dass die Menschen aus der Arbeitslosigkeit in die neuen Erwerbsformen wechseln.

WIESEHÜGEL: Ich halte mich an das Motto: Glaube keiner Statistik, die du nicht selbst in Auftrag gegeben hast. Zwar gibt es heute eine Million registrierte Arbeitslose weniger als vor zehn Jahren, aber die Zahl der atypisch Beschäftigten ist in dieser Zeit um drei Millionen gestiegen und die Zahl der Beschäftigten im Niedriglohnsektor um 1,5 Millionen– natürlich haben die Unternehmen Menschen in die prekären Beschäftigungsverhältnisse abgeschoben.

Herr Wiesehügel würden Sie die Grenzen nach Osteuropa wieder schließen?

WIESEHÜGEL. Nein, natürlich nicht Aber wir brauchen einen flächendeckenden Mindestlohn, der Lohndumping erschwert und verhindert, dass sich die Situation vieler Arbeitnehmer mit der Öffnung dramatisch verschlechtert.

Wie hoch soll der sein?

WIESEHÜGEL: Sie kennen unseren Vorschlag: 8,50 Euro. Etwas anderes werden Sie von mir nicht hören.

HÜTHER: Das ist schade, denn es wird Arbeitsplätze kosten. Mindestlöhne sind nur eine defensive Strategie. Viel wichtiger ist aber, dass wir in die Ausbildung der Menschen investieren, denn mit dem Niedriglohnsektor können wir diese Probleme des deutschen Arbeitsmarktes allein nicht lösen.

WIESEHÜGEL: Es sind doch gerade die Unternehmen, die zu wenig ausbilden und weiterbilden. Wir haben ein großes Reservoir arbeitsloser Facharbeiter. Aber anstatt die Menschen umzuschulen, jammern die Firmen rum.

HÜTHER: Nein, die Unternehmen nehmen ihre Aufgaben bei der Ausbildung sehr ernst. Das haben übrigens auch die Gewerkschaften anerkannt. Es hakt mitunter bei der Weiterbildung im Betrieb speziell für Ältere; das haben die Unternehmen bisher vernachlässigt, aber das ändert sich gerade.

Ein sträfliches Versäumnis, vor allem wenn die Menschen künftig bis 70 arbeiten sollen, wie Sie es vorgeschlagen haben.

HÜTHER: Das ist weniger dramatisch als es zunächst klingt. Wir schlagen vor, langfristig bis 2040 das Rentenalter auf 70 Jahre anzuheben. Anders werden wir unsere Sozialsysteme nicht mehr finanzieren können. Und Mediziner sagen uns auch, dass wir das können werden– die Menschen sind immer länger fit und können länger arbeiten.

WIESEHÜGEL: Sie und Ihre Kollegen an Ihrem Institut können von mir aus bis 70 arbeiten oder sogar bis 80, wenn Sie das denn wollen. Aber das können Sie keinem Bauarbeiter erzählen, der tagaus tagein hart schuftet. Die meisten Menschen, die körperlich hart arbeiten, schaffen es schon heute nicht bis zum regulären Renteneintrittsalter mit 65 Jahren. Das ist die Realität und daran gehen Ihre Vorschläge völlig vorbei.

HÜTHER: Überhaupt nicht, das zeigen die Erfahrungen vieler Industriebranchen und zahllose medizinische Studien. Uns muss nur klarwerden, dass wir die Arbeitswelt den Realitäten anpassen müssen, dann werden wir auch Lösungen finden. Die Alternative ist, dass alle mehr in die Rentenversicherung einzahlen, aber das ist weder originell noch sinnvoll, und es vernichtet Chancen für die jüngeren Generationen in unserem Land.

Herr Wiesehügel, neben den Problemen, die Sie skizzieren, werden kommendes Jahr auch die Löhne steigen – wird2011 unterm Strich ein gutes Jahr für Arbeitnehmer?

WIESEHÜGEL: Ich befürchte nein. Denn die Entwicklungen, die ich beschrieben habe, werden sich im kommenden Jahr fortsetzen. Viele Arbeitnehmer verdienen möglicherweise etwas mehr, aber die hart arbeitenden Steuerzahler müssen nicht nur die steigenden Staatsschulden finanzieren, sondern auch für die Schulden der anderen Euroländer gerade stehen– und finanzieren so Banker, die mit den Euroschulden spekulieren. Das wird auch im kommenden Jahr weitergehen.

HÜTHER: Für die gesamte Volkswirtschaft wird2011 ein gutes Jahr werden. Der Aufschwung wird weitergehen, den Unternehmen geht es gut, und darum wird es auch für die Beschäftigung und Löhne ein gutes Jahr werden. Die Menschen sind zu Recht optimistisch, und es gibt keinen Grund zum Klassenkampf.

WIESEHÜGEL: Für Ihre Klientel wird es vielleicht ein gutes Jahr. Für die Arbeitnehmer wohl eher nicht.

Klaus Wiesehügel (57) ist seit 1995 Bundesvorsitzender der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG Bau). Er ist damit einer der dienstältesten Spitzengewerkschafter im Land. In seiner Gewerkschaft sind viele Geringverdiener– vor allem aus der Landwirtschaft und dem Bau. Wiesehügel ist gelernter Betonbauer wie sein Vater und ist seit 1973 Mitglied der SPD. Von 1998 bis 2002 saß er im Deutschen Bundestag.

Artikel im Original | PDF

Mehr zum Thema

Artikel lesen
Eingangstür der Bundesagentur für Arbeit in Berlin.
Holger Schäfer / Stefanie Seele IW-Kurzbericht Nr. 23 26. April 2024

Arbeitsmarkt 2024: Die Rückkehr der Arbeitslosigkeit?

Während sich der Arbeitsmarkt in Deutschland im vergangenen Jahr trotz Rezession als erstaunlich stabil erwies, werden sich im laufenden Jahr zunehmend die Folgen der konjunkturellen Schwäche zeigen. Die Arbeitslosigkeit steigt auf den höchsten Stand seit ...

IW

Artikel lesen
Andrea Hammermann IW-Kurzbericht Nr. 22 25. April 2024

Betriebliche Gesundheitsförderung – resilient in Krisenzeiten

Hohe Krankenstände rücken die Gesundheitsförderung wieder verstärkt in den betrieblichen Fokus. Daten des IW-Personalpanels zeigen die Vielfalt und Verbreitung des betrieblichen Angebots. Auch die individuelle Resilienz wird vielerorts gestärkt – rund jedes ...

IW

Mehr zum Thema

Inhaltselement mit der ID 8880