Im Wettbewerb um Fachkräfte wirbt die deutsche Wirtschaft um qualifizierte Arbeitskräfte aus dem Ausland. Beim Stand von Zuzug und Integration besteht ein Ost-West-Gefälle.
Fachkräftelücke und Großinvestitionen: Der Osten braucht mehr Zuwanderung
Institut der deutschen Wirtschaft (IW)
Im Wettbewerb um Fachkräfte wirbt die deutsche Wirtschaft um qualifizierte Arbeitskräfte aus dem Ausland. Beim Stand von Zuzug und Integration besteht ein Ost-West-Gefälle.
In den ostdeutschen Bundesländern liegt der Anteil der ausländischen Einwohner mit unbefristetem Aufenthaltstitel an allen ausländischen Einwohnern bei durchschnittlich 37 Prozent und ist damit eineinhalbmal niedriger als in den westdeutschen Ländern. Zudem lässt sich eine Binnenmigration von Ost nach West bei Ausländern feststellen. Dies ist für Unternehmen ein Nachteil bei der Anwerbung neuer ausländischer Fachkräfte.
Die hohen Umfragewerte der AfD im Sommer 2023 bereiten nicht nur den etablierten politischen Parteien Sorgen. Auch führende Unternehmensvertreter warnen vor einer erstarkenden AfD, die zum Standortrisiko werden könnte, weil sie Zuzügler aus dem Ausland abschreckt und die Integration erschwert (Zeit Online, 2023). Im Wettbewerb um Fachkräfte ist die deutsche Wirtschaft von Zuwanderung abhängig, sodass eine starke rechtspopulistische Partei nicht im Interesse der deutschen Wirtschaft sein kann.
Die Sorge um Standortnachteile bei der Anwerbung von ausländischen Fachkräften, Investitionen und Entrepreneurship ist insbesondere in Ostdeutschland berechtigt, was auch die besonders nachdrückliche Warnung der ostdeutschen Unternehmensvertreter vor einer starken AfD untermauert (Dahmer/Sturm, 2023).
Die ostdeutschen Flächenländer stehen bei Ausländern ohnehin nicht hoch im Kurs: alle fünf Bundesländer waren im Jahr 2022 Netto-Abwanderungsländer bei Ausländerinnen und Ausländern – anders als bei Deutschen, bei denen nur in Thüringen ein leicht negativer Wanderungssaldo bestand. Spitzenreiter war Sachsen mit einem negativen Wanderungssaldo bei Ausländern von 4.196 Personen, Sachsen-Anhalt und Thüringen verloren jeweils knapp 2.200 Personen, Mecklenburg-Vorpommern 1949 und Brandenburg verlor netto 1.465 ausländische Einwohner.
Der Anteil von Ausländern an der Bevölkerung ist in Ostdeutschland deutlich geringer (5,85 Prozent) als in Westdeutschland (15,96 Prozent). Zudem sind die ökonomischen Perspektiven für Ausländer in Ostdeutschland schlechter als in Westdeutschland, was sich in der deutlich höheren Arbeitslosigkeit unter Ausländern in Ostdeutschland von 18,5 Prozent gegenüber 12,9 Prozent im Westen widerspiegelt (Destatis). Zweifellos spielt auch Kettenmigration bei der Ost-West-Wanderung eine Rolle, also der Zuzug der Migranten an Orte, an denen bereits eine signifikante Anzahl an ethnisch und kulturell gleichen Personen, nicht zuletzt auch Verwandtschaften, wohnen. Für Ostdeutschland bedeutet dies, dass aufgrund der geringen Präsenz an Ausländern die Attraktivität für den Zuzug neuer Ausländerinnen und Ausländer niedriger ist als in Westdeutschland.
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Steigende Arbeitskräftenachfrage
Dies könnte bald zum Problem werden. Denn die ostdeutschen Bundesländer haben nach den Ankündigungen mehrerer Großinvestitionen durch Unternehmen in zukunftsorientierten Branchen einen steigenden Bedarf an Fachkräften, der durch Zuzug und Einwanderung gedeckt werden muss (Hofer, 2023).
Die Fachkräftelücke lag 2021 in den neuen Bundesländern im Mittel bei 15.862 qualifizierten Arbeitskräften (alte Bundesländer: 28.444). Damit gab es in Ostdeutschland für durchschnittlich 42 Prozent aller offenen Stellen keine passend qualifizierten Arbeitslosen (KOFA, 2022). Die Fachkräftelücke könnte sogar noch steigen, wie der Blick auf demografische Trends zeigt:
Insbesondere MINT-Fachkräfte sind bei der grünen Transformation und den neuansiedelnden Unternehmen gefragt. Es sind deutlich weniger Studierende an ostdeutschen Hochschulen in MINT-Fächern eingeschrieben als in westdeutschen (45.995 vs. 408.722), jedoch ist der Anteil an ausländischen MINT-Studierenden an ostdeutschen Hochschulen mit ca. 28 Prozent höher als an westdeutschen Hochschulen mit 23 Prozent (Destatis). In der Ausbildung zu Industrie- und Handwerksjobs sieht es dagegen schlechter aus: Nur 6 Prozent der Auszubildenden in diesen Jobs sind in Ostdeutschland Ausländer, wohingegen in Westdeutschland der Anteil bei 9 bis 16 Prozent liegt (Destatis).
Neben der recht guten Repräsentation von ausländischen Studierenden ist die Altersstruktur der ausländischen Bevölkerung in Ostdeutschland eine Chance, die demografische Lücke in den kommenden Jahren zu verkleinern, sofern es gelingt, die ausländische Bevölkerung in Ostdeutschland zu halten. Der Jugendquotient – der Anteil der unter 20-Jährigen an den 20- bis 64-Jährigen – ist mit 25 bis 26 Prozent in den fünf ostdeutschen Ländern am größten. Qualifikationsmaßnahmen sowie Aus- und Weiterbildungsoffensiven könnten gezielt bei ausländischen Jugendlichen helfen, um diese als Arbeitskräfte in Ostdeutschland zu halten. Denn die Erfahrung der vergangenen Jahre zeigt, dass die Zuwanderung in den vergangenen Jahren einen wichtigen Beitrag zur Fachkräftesicherung im MINT-Bereich geleistet hat (Geis-Thöne, 2022a).
Ausländische Arbeitskräfte sind unentbehrlich für das Gelingen des Strukturwandels und der Bewältigung des demografischen Wandels. Um das Potenzial der ausländischen Fachkräfte in Ostdeutschland zu heben, bedarf es guten Bleibeperspektiven für Ausländerinnen und Ausländer und einer generellen Willkommenskultur, für die lokal bereits einige Erfolge zu nennen sind (Geis-Thöne, 2022b).
Viele befristete Aufenthaltsgenehmigungen im Osten
Bislang bleiben Ausländer mit langfristiger Aufenthaltsperspektive eher nicht in Ostdeutschland. Dies zeigt der Blick auf die Aufenthaltstitel. Der Aufenthaltstitel bestimmt, ob ein Ausländer oder eine Ausländerin in Deutschland arbeiten darf. Menschen mit einem unbefristeten Aufenthaltsrecht dürfen dies grundsätzlich, zudem machen unbefristete Titel die Anstellungen von Arbeitskräften für Unternehmen planbarer.
Betrachtet man den Anteil der Ausländer mit einem unbefristeten Aufenthaltstitel bezogen auf die Gesamtanzahl der Ausländer, zeigt sich, dass der Anteil in Westdeutschland deutlich höher ist (siehe Abbildung). Unter unbefristeten Aufenthaltstitel fallen dabei das Aufenthaltsrecht nach der europäischen Freizügigkeit, die Befreiung von der Erfordernis eines Aufenthaltstitels und die unbefristete Niederlassungserlaubnis. Im Süden Deutschlands besitzen bis zu zwei Drittel der Ausländer eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Die neuen Bundesländer liegen mit einem Mittelwert von 37 Prozent deutlich hinter den alten Bundesländern.
Der Grund für diese Diskrepanz liegt einerseits an der Präsenz von ehemaligen Gastarbeitern in den westdeutschen Bundesländern der ersten und zweiten Generation. Auch in der DDR gab es im Rahmen von Abkommen mit befreundeten Staaten Vertragsarbeiter, aber in viel geringerem Maß. Andererseits leben in den westdeutschen Ländern auch deutlich mehr Ausländer aus anderen Gründen: Der Vergleich der in der Wirtschaftsleistung und Bevölkerungsanzahl etwa gleichgroßen Länder Rheinland-Pfalz und Sachsen, die beide an europäische Nachbarstaaten grenzen, zeigt, dass im Westen Deutschlands viel mehr Ausländer mit unbefristeten Aufenthaltstitel leben, die nicht unter die ehemaligen Gastarbeiter fallen (644.000 vs. 228.000). Die Attraktivität des westdeutschen Bundeslandes übertrifft die des ostdeutschen bei Personengruppen aus allen Herkunftsregionen.
Ein kultureller Wandel ist notwendig
Als Reaktion auf den demografischen Wandel und den zunehmenden Fachkräftemangel muss Deutschland um ausländische Fachkräfte werben, die auch langfristig in Deutschland bleiben. Auch für Gründerinnen und Gründer mit Migrationserfahrung – den „Immigrant Founders“ – sind die Bedingungen in Deutschland aufgrund von fehlender Offenheit, Sprachbarrieren und mangelhaftem Informationsangebot nicht gut (Schäfer, 2021).
Die Verteilung der unbefristeten Aufenthaltstitel und die Ost-West-Wanderung zeigen, dass die ostdeutschen Bundesländer zurückliegen. Deutschland muss insgesamt, und die ostdeutschen Bundesländer müssen im Speziellen attraktiver für Einwanderer werden.
Die Neuansiedlungen großer Unternehmen drohen den bestehenden Fachkräftemangel weiter zu verschärfen. Sie können jedoch auch eine Chance darstellen, den Standort Ostdeutschland attraktiver für ausländische Fachkräfte zu machen. Entscheidend ist auch ein politisch-gesellschaftliches Klima, in dem sich Einwanderer willkommen fühlen. Dies ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe für Politik, Unternehmen und Zivilgesellschaft.
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