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Matthias Diermeier / Melinda Fremerey IW-Kurzbericht Nr. 37 27. Mai 2023 Solidarische Sanktionsmehrheit

Noch immer stehen 71 Prozent der Deutschen hinter den Sanktionen gegen Russland – und das obwohl knapp zwei Drittel dieser Sanktionsbefürworter denken, die Sanktionen schadeten primär Deutschland.

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Solidarische Sanktionsmehrheit
Matthias Diermeier / Melinda Fremerey IW-Kurzbericht Nr. 37 27. Mai 2023

Solidarische Sanktionsmehrheit

Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Institut der deutschen Wirtschaft (IW)

Noch immer stehen 71 Prozent der Deutschen hinter den Sanktionen gegen Russland – und das obwohl knapp zwei Drittel dieser Sanktionsbefürworter denken, die Sanktionen schadeten primär Deutschland.

Selbst in Ostdeutschland, wo 83 Prozent der Menschen die Sanktionsschäden vorrangig in Deutschland verorten, stützt noch immer eine Mehrheit die Sanktionen (55,8 Prozent). Innerhalb der Parteianhängerschaften sind die Ost-West Unterschiede zudem lediglich bei den Parteien DIE LINKE und AfD präsent.

Russland ist seit seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine mit über 15.000 Sanktionen (Stand Mai 2023) das weltweit meistsanktionierte Land (Castellum.AI, 2023). Trotzdem zeigt sich die russische Wirtschaft aufgrund der zwischenzeitlich hohen Öl- und Gaspreise, Re-Exporte westlicher Güter und die Umstellung auf eine Kriegswirtschaft als robust. Aktuell geht der IWF für das Jahr 2023 immerhin von einem marginalen russischen Wachstum von 0,7 Prozent aus, während für Deutschland eine leichte Rezession prognostiziert wird (IWF, 2023). Doch der Schein einer stabilen russischen Wirtschaft trügt (Fremerey / Gerards, 2023). Sanktionen entfalten ihre volle Wirkung erst in der langen Frist.

Für ein langfristiges Sanktionsregime ist die Unterstützung der Bevölkerung unerlässlich. Die Einstellungen zu den Sanktionen wurden daher innerhalb der IW-Personenbefragung im Frühjahr 2023 abgefragt (siehe Kasten Datengrundlage). Die Befragung offenbart, dass ein Großteil (84 Prozent) der Deutschen annimmt, die Sanktionen erfüllten ihren Zweck, der russischen Wirtschaft zu schaden. Gleichzeitig vermuten 71,5 Prozent der Befragten, die eingeschränkten Handelsbeziehungen schadeten der deutschen Wirtschaft mehr als der russischen. Dass eine ähnlich große Anzahl (71 Prozent) trotzdem weiterhin die Sanktionen mitträgt oder sogar verschärfen möchte, deutet an, dass breite Teile der Bevölkerung bereit sind, die wirtschaftlichen Kosten des politischen Kurses hinzunehmen. Dabei geht nur eine Minderheit davon aus, dass sich die Situation mittelfristig normalisiert: 86 Prozent halten Russland auch in den nächsten zehn Jahren nicht für einen verlässlichen Handelspartner. Im Vergleich zwischen West und Ost fallen die Einstellung nur leicht unterschiedlich aus: 77 Prozent der Ostdeutschen glauben, die Sanktionen schadeten Russland (85 Prozent im Westen). Umgekehrt geben im Osten 83 Prozent an, der Schaden sei für Deutschland größer (im Westen: 71 Prozent). Trotzdem wollen ebenso Menschen in Ostdeutschland mehrheitlich (55,8 Prozent) die Sanktionen beibehalten oder verschärfen (Westen 73 Prozent). Auch in Ostdeutschland sind damit viele Menschen bereit, die Sanktionen trotz ökonomischer Kosten mitzutragen.

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Um die Komplexität dieser Einstellungsmuster herunterzubrechen, lassen sich die Menschen hinsichtlich ihrer Bewertung der Sanktionen und deren Folgen in vier Gruppen einordnen (siehe Abbildung). Dabei wird die latente Zustimmung („teils/teils“) zur Aussage, die Sanktionen schadeten Deutschland mehr als Russland, als Zustimmung gewertet. Die größte Gruppe der Deutschen (46 Prozent) unterstützt die Sanktionen, ohne anzunehmen, dass diese primär in Russland wirkten. Da diese Menschen bereit zu sein scheinen, die aktuellen wirtschaftliche Kosten in Kauf zu nehmen, können sie als ideologische Sanktionsbefürworter bezeichnet werden. Zweitens befürwortet knapp ein Viertel der Befragten die Sanktionen und nimmt gleichzeitig an, diese schadeten eher der russischen Wirtschaft. Auch wenn die Wirksamkeit nicht für die Bewertung der Sanktionen ausschlaggebend sein muss, so lässt sich diese Gruppe als ökonomische Sanktionsbefürworter betiteln. Umgekehrt kann Widerstand gegen die Sanktionen mit der Einschätzung einhergehen, dass sie eher die heimische Wirtschaft und weniger den russischen Aggressor ökonomisch bremsen. Zu diesen ökonomischen Sanktionsgegnern zählt etwas mehr als jeder Vierte. Trotzdem scheint die Ablehnung gegenüber den Sanktionen nicht rein ökonomisch motiviert zu sein, da diese Gruppe Russland gegenüber am freundlichsten eingestellt ist. So gibt ein Drittel der vermeintlich ökonomischen Sanktionsgegner an, Russland sei ein verlässlicher Handelspartner. Die Gruppe der ideologischen Sanktionsgegner, die das Sanktionsregime ablehnt, ohne dessen primär intendierte Wirkung zu bezweifeln, ist mit lediglich 2,5 Prozent hingegen eher unbedeutend.

Auch in Ostdeutschland geht der Widerstand gegen die Sanktionen nicht auf Menschen zurück, die diese für zuvorderst in Russland wirkmächtig halten. Wer Sanktionen ablehnt, gibt nicht viel auf deren Wirksamkeit. Dafür machen die ökonomischen Sanktionsgegner, die annehmen, der Schaden entstünde primär in Deutschland, im Osten 42,4 Prozent aus (Westen: 24,2 Prozent). Hier zeigt sich die ausgeprägtere Skepsis gegenüber den Auswirkungen in Russland im Vergleich zum eigenen Schaden. Auch in Ostdeutschland geht diese aber nicht unbedingt mit dem Ruf nach einer Sanktionslockerung einher. Tatsächlich ist die Gruppe der ideologischen Befürworter im Osten mit knapp 41 Prozent nur etwas kleiner als im Westen (46,8 Prozent). Die ökonomischen Sanktionsbefürworter, die an die primär intendierte Wirksamkeit der Sanktionen glauben, stellen dort jedoch nur 15,2 Prozent (Westen: 26,4 Prozent).

Der Blick in die Partei-Anhängerschaften offenbart wiederum, dass die Ost-West Unterschiede innerhalb der sanktionsaffineren Parteien gering ausfallen. Unter denjenigen, die den Grünen, der SPD oder den Unionsparteien zuneigen, besteht im Osten lediglich eine etwas höhere Sanktionsskepsis. Dass sich dort Druck auf das bestehende Sanktionsregime aufbaut, ist nicht aus den Anhängerschaften der Parteien absehbar, die dieses breit mittragen. Um die langfristige Stabilität des Sanktionsregimes zu analysieren, stehen die Parteien der Ränder im Fokus. Diese sind im Osten beliebt und konnten mit der AfD zuletzt teils deutlich an Wählergunst hinzugewinnen. Zudem bestehen innerhalb der eher sanktionsskeptischen Linken und der AfD entsprechende Ost-West Differenzen. Keine Partei weist eine geographische Spaltung auf wie DIE LINKE. Während die Linken-Befürworter des Sanktionsregimes im Westen in der Mehrheit sind (59,7 Prozent), addiert sich die Gegnerschaft im Osten zu 57,9 Prozent zusammen. Zudem sind die Linken-Befürworter im Osten stärker dominiert durch diejenigen, die Sanktionswirkungen eher in Russland als in Deutschland verorten. Ein ähnliches Bild zeichnet die AfD-Anhängerschaft nach – hier sind die Sanktionen noch unpopulärer. Innerhalb der AfD-Minderheiten der Sanktionsbefürworter (Westen: 37 Prozent; Osten: 23,3) schrumpft die Gruppe der ökonomischen Sanktionsbefürworter weiter.

Die Gesamtschau zeigt: Je größer die Gruppe der Sanktionsskeptiker, desto kleiner unter den Befürwortern die Gruppe, die bereit ist, wirtschaftlichen Schaden für Deutschland in Kauf zu nehmen. Außerhalb der Linken- und AfD-Anhängerschaft steht für eine langfristige Stabilität des Sanktionsregimes gerade die Gruppe der ökonomischen Sanktionsbefürworter im Vordergrund, denn diese attestiert den Sanktionen eine mächtigere Wirkung. Sollte deutlich werden, dass der Schaden für die heimische Wirtschaft doch höher ausfällt als für Russland, bleibt offen, ob Sanktionen schließlich abgelehnt werden. Wichtig ist auch der Blick auf die wirtschaftliche Besorgnis. So machen sich die ökonomischen Sanktionsbefürworter die geringsten Sorgen um die eigene sowie die bundesweite wirtschaftliche Lage (Große Sorgen: 17,4 bzw. 17,9 Prozent). Die ökonomischen Sanktionsgegner sind hingegen am besorgtesten (Große Sorgen um eigene bzw. allgemeine Lage: 35,7 bzw. 50,4 Prozent). Gleichzeitig fordern letztere am vehementesten weitere Entlastungen. Dass sich mit Transfers die Zustimmung von ökonomischen Sanktionsgegner „erkaufen“ ließe, darf jedoch bezweifelt werden. Schließlich fordern diese auch nach den massiven Entlastungspaketen mit einer Mehrheit von 82,2 Prozent weitere Transfers – selbst, nachdem sie explizit auf die Vielzahl an Maßnahmen des deutschen Staates zur Abfederung der gestiegenen Energiepreise und die erheblichen Kosten in Höhe von 200 Mrd. Euro hingewiesen wurden. Um langfristig die Sanktionsmehrheit zu sichern, sollte die Bundesregierung vielmehr eine konsequente Energie- und Wachstumspolitik ohne russische Energieträger umsetzen.

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