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Jürgen Matthes / Samina Sultan IW-Kurzbericht Nr. 29 25. April 2023 Reform der EU-Fiskalregeln: Lindners Ideen haben Berechtigung

Der heute vorgelegte Gesetzesvorschlag der EU-Kommission für die Reform der EU-Fiskalregeln greift teilweise wichtige Vorschläge der Bundesregierung auf. So sollen die Staatsausgaben bei hochverschuldeten Staaten geringer wachsen als das Potenzialwachstum. Was das bedeutet, haben IW-Experten durchgerechnet. Sie zeigen, dass damit keine überzogenen Konsolidierungsanforderungen verbunden sind, wie der Bundesregierung oft vorgeworfen wird. Zudem sollen – richtigerweise – nicht erst 4 Jahre ungenutzt verstreichen, bevor die Schuldenquoten sinken.

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Lindners Ideen haben Berechtigung
Jürgen Matthes / Samina Sultan IW-Kurzbericht Nr. 29 25. April 2023

Reform der EU-Fiskalregeln: Lindners Ideen haben Berechtigung

Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Institut der deutschen Wirtschaft (IW)

Der heute vorgelegte Gesetzesvorschlag der EU-Kommission für die Reform der EU-Fiskalregeln greift teilweise wichtige Vorschläge der Bundesregierung auf. So sollen die Staatsausgaben bei hochverschuldeten Staaten geringer wachsen als das Potenzialwachstum. Was das bedeutet, haben IW-Experten durchgerechnet. Sie zeigen, dass damit keine überzogenen Konsolidierungsanforderungen verbunden sind, wie der Bundesregierung oft vorgeworfen wird. Zudem sollen – richtigerweise – nicht erst 4 Jahre ungenutzt verstreichen, bevor die Schuldenquoten sinken.

Der Vorschlag der Bundesregierung ist sinnvoll, bei der Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts eine feste Begrenzung des Staatsausgabenwachstums für hochverschuldete Mitgliedstaaten einzuführen. Eine solche Mindestanforderung erscheint angesichts des makroökonomischen Umfelds auch nicht überambitioniert. Somit wäre ein stetiger Abbau des staatlichen Defizits und des Schuldenstands gewährleistet.

Bis Ende des Jahres soll ein Reformkonzept für den Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) vorliegen. Im November 2022 hat die Europäische Kommission ihren Plan dazu vorgelegt (Europäische Kommission, 2022a). Er basiert auf länderspezifischen Schuldentragfähigkeitsanalysen und mittelfristigen Fiskalplänen, gibt der Kommission dabei aber großen politischen Spielraum. Nun hat die Bundesregierung darauf in einem Non-Paper für die bevorstehenden Beratungen im Rat reagiert (BMF, 2023). Der Vorschlag der Bundesregierung zielt darauf ab, dem Reformplan der Europäischen Kommission durch quantitative Richtwerte einen engeren Rahmen zu geben, um so den multilateralen Charakter des SWP zu erhalten, die Reduktion der Schuldenstände und des Defizits sicherzustellen und den vergrößerten Spielraum der Europäischen Kommission zu begrenzen. Die Forderungen wurden teils als zu harsch kritisiert (Blanchard/Zettelmeyer, 2023; Greive et al., 2023). Im Folgenden werden drei wesentliche Vorschläge der Bundesregierung genauer analysiert.

Eine merkliche Abweichung vom Reformkonzept der Kommission ist eine feste Begrenzung des Ausgabenwachstums, die nach Meinung der Bundesregierung für eine hinreichende Schuldenreduzierung nötig ist. Daher soll als Mindestkonsolidierungsvorgabe für höher verschuldete Staaten gelten, dass das Wachstum der Nettoprimärausgaben um eine gewisse Marge geringer sein muss als das Potenzialwachstum der Wirtschaft. Als Differenz der beiden Wachstumsraten schlägt die Bundesregierung für hochverschuldete Länder beispielsweise 1 Prozentpunkt vor. Dieses Kriterium würde gelten, bis der staatliche Haushalt als hinreichend ausgeglichen angesehen werden kann.

Um die Konsequenzen dieser Forderung grob zu verdeutlichen, wird eine vereinfachte Rechnung für ausgewählte Euroländer angestellt. Für jeden Staat werden als Ausgangsbasis Daten für das Haushaltsdefizit und die Anteile von Staatsausgaben- und Staatseinnahmen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Jahr 2022 der Europäischen Kommission (2022b) verwendet. Das Potenzialwachstum wird durch die durchschnittliche nominale BIP-Wachstumsrate für den Zeitraum 2022 bis 2028 wie vom Internationalen Währungsfonds (IMF, 2023) prognostiziert approximiert. Auf dieser Basis wird die Entwicklung des Haushaltsdefizits fortgeschrieben. Hierbei wird angenommen, dass das Wachstum der Staatseinnahmen jeweils dem Potenzialwachstum entspricht.

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Für das Ausgabenwachstum werden drei Szenarien modelliert:

  • Szenario 1: Das Wachstum der Staatsausgaben liegt um 1 Prozentpunkt unter dem Potenzial- und Einnahmewachstum. Dies würde dem beispielhaften Vorschlag der Bundesregierung für hochverschuldete Mitgliedstaaten entsprechen.
  • Szenario 2: Das Ausgabenwachstum liegt um 0,5 Prozentpunkte unter dem Potenzial- und Einnahmewachstum. Dies würde eine etwas weniger ambitionierte Konsolidierung implizieren.
  • Szenario 3: Das Ausgabenwachstum entspricht dem Potenzial- und Einnahmewachstum ohne Abschlag. Damit bleibt das Fiskaldefizit konstant auf dem Level des Ausgangsjahrs.

Die Abbildung stellt das Haushaltsdefizit im Ausgangsjahr 2022 und im Jahr 2027 gemäß der drei Szenarien für Italien, Frankreich, Spanien und Deutschland dar. Die drei erstgenannten Länder gelten mit einer Verschuldung von über 100 Prozent des BIP als hochverschuldet, Deutschland mit knapp 67 Prozent Verschuldungsgrad als mittelhoch verschuldet.

Bei der Bewertung des Vorschlags der Bundesregierung ist entscheidend, ob die Mindestanforderung von 1 Pro-zentpunkt zu einer zu starken Konsolidierung und zu einer Überforderung führt oder nicht. Die Abbildung zeigt, dass das Haushaltsdefizit in den fünf Jahren zwischen 2022 und 2027 in Szenario 1 nur moderat abnimmt – mit einer jahresdurchschnittlichen Verringerung von etwa 0,5 Prozentpunkten. Ein Vergleich mit der aktuellen Prognose der Europäischen Kommission (2022b) für die Entwicklung des Haushaltsdefizits zeigt, dass sich Spanien und Italien bereits grob auf diesem Reduktionspfad befinden. Damit erscheint die Vorgabe für diese hochverschuldeten Mitgliedstaaten in der aktuellen Lage nicht überambitioniert. Von Frankreich wäre hingegen eine ambitioniertere Fiskalpolitik gefordert. Das hat die französische Regierung allerdings erkannt und plant in diese Richtung (Waschinski, 2023).

In den anderen beiden Szenarien bleibt das Fiskaldefizit in den betrachteten hochverschuldeten Staaten selbst nach fünf Jahren bei über 3 Prozent des BIP. Dieses Konsolidierungstempo ist zu gering, solange die makroökonomischen Bedingungen sich nicht verschlechtern.

Grundsätzlich erscheint die Stoßrichtung des Vorschlags der Bundesregierung sinnvoll. Eine feste numerische Vorgabe, wie die beispielhaft genannte Mindest-marge von 1 Prozentpunkt, ist als Regelbindung zwar theoretisch sinnvoll. Doch ob sie in der aktuellen politischen Debatte auch durchsetzbar ist, erscheint fraglich. Als Alternative bietet sich eine vager gehaltene Regel an, die an stärker verschuldete Staaten etwas höhere Ansprüche als an geringer verschuldete Länder stellt. Zudem müssen für Rezessionsphasen Abweichungen von der Mindestanforderung zulässig sein.

Eine weitere Kernforderung der Bundesregierung besteht darin, dass der Abbau der Staatsschuldenquote – ab dem ersten Jahr der Einführung des reformierten SWP – für hochverschuldete Mitgliedstaaten jährlich 1 Prozentpunkt beträgt und für mittelhoch verschuldete Mitgliedstaaten 0,5 Prozentpunkte. Dagegen wird der Kommissionsvorschlag so interpretiert, dass eine Schuldenquotensenkung erst nach vier bis sieben Jahren beginnen muss. Damit besteht hier ein wichtiger Unterschied und es stellt sich erneut die Frage, ob der Vorschlag der Bundesregierung überambitioniert ist.

Betrachtet man die aktuelle Prognose des IWF (2023) zur Entwicklung der Staatsschuldenquoten der ausgewählten Länder für die Jahre bis 2028, so wird die Anforderung einer mindestens einprozentigen Schuldenquotenreduktion pro Jahr teilweise erfüllt. Für Italien prognostiziert der IWF – nach nur –0,2 Prozentpunkten im Jahr 2024 – ab 2025 bis 2028 einen Schuldenquotenrückgang, der die Marke von 1 Prozentpunkt sogar noch leicht überschreitet. Spanien erfüllt die Vorgabe bis 2024 ebenfalls, im Jahr 2025 mit –0,4 Prozent teilweise, danach mit Schuldenquotenzuwächsen nicht mehr. Frankreichs Schuldenstand steigt bereits ab diesem Jahr stetig weiter nach der IWF-Prognose, was erneut auf einen Mangel an Konsolidierung hinweist.

Angesichts des derzeitigen makroökonomischen Umfelds mit einer Wachstumserholung in den nächsten Jahren, weiterhin niedrigen Durchschnittszinsen (wenn auch bei leicht steigender Tendenz) und einer weiter recht hohen Inflation dürfte ein Schuldenabbau ohne allzu harten fiskalischen Sparkurs möglich sein. Vor diesem Hintergrund wären die vier bis sieben Jahre, in denen laut Kommissionsvorschlag noch keine Schulden abgebaut werden müssen, verschenkte Jahre.

Trotzdem erscheint die Mindestforderung der Bundesregierung zum Schuldenabbau nicht zwingend. Denn da der Ausgabenpfad auf Basis einer fundierten Schuldentragfähigkeitsanalyse unter den derzeitigen makroökonomischen Bedingungen erstellt wird und wenn die oben ausgeführte Begrenzung des Ausgabenwachstums als Backstop gilt, ergibt sich mit ausreichender Wahrscheinlichkeit bereits eine kontinuierliche Schuldenreduktion. Somit wäre eine weitere explizite Regelung hierzu in diesem Fall obsolet. Es reicht also die Mindestbedingung zum Ausgabenpfad aus – zumal die Schuldenquotenreduktionsvorgabe politisch recht kontrovers ist.

Die dritte Kernforderung der Bundesregierung besteht in der Aufweichung der bestehenden Investitionsklausel im SWP (Rat der Europäischen Kommission, 2017), um zukunftsorientierte Investitionen zu ermöglichen. Bestimmte investive Staatsausgaben werden damit nicht beim SWP angerechnet. Bisher ist die Anwendung der Investitionsklausel sehr eng gefasst, da sie nur für Phasen des ökonomischen Abschwungs für EU-kofinanzierte Projekte vorgesehen ist – und das zeitlich und in der Höhe begrenzt.

Das aktuelle Non-Paper der Bundesregierung bleibt relativ vage bezüglich einer Reform. Jedoch hatte sich das Bundesfinanzministerium (2022) bereits im August 2022 etwas spezifischer für eine gewisse Aufweichung der Investitionsregel ausgesprochen: So soll die Anwendung nicht auf Krisen beschränkt sein, das Volumen soll umfangreicher ausfallen können und zusätzliche EU-Programme sollen berücksichtigt werden können. Eine solche erweiterte Anwendung der Investitionsklausel hat Berechtigung angesichts der grünen und digitalen Transformation. Zudem spricht für die Bindung an EU-Programme, dass damit eine sinnvolle Verwendung der investiven Mittel eher gegeben ist als bei rein nationalen Projekten.

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