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Holger Schäfer IW-Kurzbericht Nr. 54 23. August 2023 Persistenz von Arbeitslosigkeit bei hoher Arbeitskräftenachfrage

Die Anzahl der Arbeitslosen sinkt auch dann nicht automatisch auf null, wenn Betriebe Schwierigkeiten bei der Besetzung offener Stellen haben. Für die Persistenz von Arbeitslosigkeit sind unter anderem vier Faktoren verantwortlich: Dauer der Arbeitsuche, qualifikatorischer und regionaler Mismatch sowie weitere persönliche Vermittlungshemmnisse wie gesundheitliche Einschränkungen.

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Persistenz von Arbeitslosigkeit bei hoher Arbeitskräftenachfrage
Holger Schäfer IW-Kurzbericht Nr. 54 23. August 2023

Persistenz von Arbeitslosigkeit bei hoher Arbeitskräftenachfrage

Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Institut der deutschen Wirtschaft (IW)

Die Anzahl der Arbeitslosen sinkt auch dann nicht automatisch auf null, wenn Betriebe Schwierigkeiten bei der Besetzung offener Stellen haben. Für die Persistenz von Arbeitslosigkeit sind unter anderem vier Faktoren verantwortlich: Dauer der Arbeitsuche, qualifikatorischer und regionaler Mismatch sowie weitere persönliche Vermittlungshemmnisse wie gesundheitliche Einschränkungen.

Mit nachlassender konjunktureller Dynamik steigt die Anzahl der Arbeitslosen wieder an. Im Juli 2023 lag sie mit 2,6 Millionen knapp 150.000 über dem Vorjahresmonat – was nicht allein daran lag, dass seit Sommer 2022 ukrainische Geflüchtete als arbeitslos registriert werden. Zu den Arbeitslosen kommen noch einmal knapp 900.000 Personen in Unterbeschäftigung hinzu (Statistik der Bundesagentur für Arbeit, 2023a). Bei diesen handelt es sich zum Beispiel um Personen, die eine arbeitsmarktpolitische Maßnahme absolvieren und nur deshalb nicht als arbeitslos in der Statistik auftauchen. 

Gleichzeitig ermittelte das IAB (2023) für das erste Quartal rund 700.000 gemeldete sowie weitere 1,0 Millionen ungemeldete offene Stellen – das ist der höchste jemals für ein erstes Quartal gemessene Wert. Es stellt sich daher die Frage, warum die Arbeitslosigkeit trotz offenkundig vorhandener Arbeitskräftenachfrage der Betriebe nicht stärker gesenkt werden kann. Im Wesentlichen können vier Erklärungsansätze genannt werden.

Erstens handelt es sich bei der Arbeitslosigkeit zu einem nicht unwesentlichen Teil um Sucharbeitslosigkeit, die für einen funktionsfähigen Arbeitsmarkt ganz normal ist. Sie entsteht, weil nicht jeder, der im Laufe eines Jahres arbeitslos wird, sofort und ohne Verzögerung eine neue Beschäftigung aufnehmen kann. Die meisten Arbeitslosen werden eine Weile nach einer passenden neuen Beschäftigung suchen müssen. Das kann bis zu einem gewissen Grad gesamtwirtschaftlich effizient sein, weil die Produktivität eines Arbeitnehmers in einem genau passenden Job in der Regel höher ist, als wenn er das erstbeste Angebot annehmen würde. Eine Arbeitslosigkeit von null wäre hingegen kein Indiz für einen gesunden Arbeitsmarkt, da hier bereits von einem massiven Arbeitskräftemangel ausgegangen werden müsste.

Zweitens passen die qualifikatorischen Anforderungen aus den offenen Stellen nicht notwendigerweise zu den Kenntnissen und Fähigkeiten, die Arbeitslose mitbringen (Burstedde et al., 2023). Während über die Hälfte der Arbeitslosen über keine abgeschlossene Berufsausbildung verfügen (Grafik), stehen dem nur wenige gemeldete offene Stellen gegenüber, die für Geringqualifizierte geeignet sind. Die meisten Vakanzen richten  sich an Fachkräfte. Es gibt zudem Arbeitslose, die zwar durchaus eine Berufsausbildung vorweisen können, die aber auf dem Arbeitsmarkt nicht gefragt ist. Währenddessen liegt bei anderen Berufsausbildungen ein Arbeitskräftemangel vor. So konkurrieren 25 arbeitslose Fachkräfte der Musikpädagogik um eine gemeldete offene Stelle, während jede arbeitslose Fachkraft der Mechatronik rechnerisch unter 5 passenden Stellenangeboten wählen kann (Statistik der Bundesagentur für Arbeit, 2023b).

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Eine naheliegende Lösung ist es, die Arbeitslosen ohne oder mit der falschen Berufsausbildung für die offenen Stellen zu qualifizieren. Dies geschieht auch – im letzten Jahr traten knapp 270.000 Arbeitslose in eine Maßnahme der beruflichen Weiterbildung ein (Statistik der Bundesagentur für Arbeit, 2023c). Dabei ergibt sich aber die Problematik, dass eine Aus- oder Weiterbildung erstens immer zu Neigungen, Fähigkeiten und Vorkenntnissen passen sollte und zweitens weder eine Garantie für den erfolgreichen Abschluss der Maßnahme noch für eine erfolgreiche Wiedereingliederung nach Abschluss der Maßnahme bietet. Auch die Arbeitsagenturen können nur schwer abschätzen, welche Qualifikationen man braucht, um auf dem Arbeitsmarkt auch in Zukunft erfolgreich zu sein. So waren im Jahr 2022 6 Monate nach dem Abschluss einer Weiterbildungsmaßnahme 70 Prozent der teilnehmenden Arbeitslosengeld-Empfänger und nur 39 Prozent der Bürgergeld-Empfänger in einer neuen Beschäftigung (Statistik der Bundesagentur für Arbeit, 2023e).

Drittens existiert ein regionaler Mismatch zwischen Arbeitslosen und offenen Stellen. Schon die Arbeitslosigkeit ist regional sehr unterschiedlich verteilt. Während im Juli 2023 in Bremen 10,8 Prozent der Erwerbspersonen arbeitslos war, betrug die Quote in Bayern nur 3,3 Prozent (Statistik der Bundesagentur für Arbeit, 2023d). Die Spannbreite des Verhältnisses von Arbeitslosen zu offenen Stellen ist noch größer. So konkurrierten in Bayern rechnerisch 16 Arbeitslose um 10 gemeldete offene Stellen, in Berlin waren es dagegen 94. Während die Unterschiede bei den Fachkräften gar nicht so groß sind, bestehen die größten Differenzen bei Helfern. In Bayern gab es im Juli 36 arbeitslose Helfer auf 10 offene Stellen für Helfer. In Berlin waren es 256 (Statistik der Bundesagentur für Arbeit, 2023b).

Eine offenkundige Lösung des Problems liegt in einer höheren regionalen Mobilität der Arbeitslosen. Wenn diese dorthin ziehen würden, wo viele offene Stellen zu finden sind, könnte der Mismatch verkleinert werden. Allerdings sind viele Menschen in ihrem Umfeld kulturell und sozial verankert. Das kann insbesondere bei Personen mit geringen beruflichen Qualifikationen die Mobilität einschränken, weil der eher geringe Verdienst die sozialen Kosten eines Umzugs nicht kompensiert.

Viertens weisen viele Arbeitslose – insbesondere die 900.000 Langzeitarbeitslosen – weitere, oftmals multiple Vermittlungshemmnisse auf. Das kann ein fortgeschrittenes Alter sein, in dessen Folge eher ein Übergang in den (vorgezogenen) Ruhestand angestrebt wird als die Aufnahme einer neuen Beschäftigung. Damit einher gehen oft gesundheitliche Einschränkungen. Dies erschwert insbesondere die Eingliederung von Geringqualifizierten, da in einfachen Tätigkeiten häufiger körperliche Tätigkeiten ausgeführt werden müssen. Im Juli 2023 waren 30 Prozent der Langzeitarbeitslosen über 55 Jahre alt und 61 Prozent hatten keine abgeschlossene Berufsausbildung. Letztlich können im Laufe einer langen Dauer der Arbeitslosigkeit soziale Kompetenzen verloren gehen – etwa die Fähigkeit, regelmäßig morgens pünktlich zur Arbeit zu erscheinen. Auch sind überdurchschnittliche viele Langzeitarbeitslose alleinerziehend. In diesen Fällen ist für eine Eingliederung in Arbeit eine adäquate Kinderbetreuung Voraussetzung.

In manchen Fällen mag auch eine Sucht- oder Schuldenproblematik oder eine andere psychosoziale Problemlage vorliegen. Um diese individuell sehr unterschiedlichen Anforderungen kümmern sich in der Regel die Job-Center mit individuell zugeschnittenen Förderungen. Die Erfahrungen aus der Vergangenheit zeigen indes, dass der Abbau von Langzeitarbeitslosigkeit vor allem bei einer langjährig gut laufenden Konjunktur mit entsprechend positiver allgemeiner Arbeitsmarktentwicklung gelingt.

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