In Deutschland war zuletzt nur noch jeder sechste Arbeitnehmer Mitglied einer Gewerkschaft. Eine Analyse der Mitgliederstruktur lässt befürchten, dass sich der schon länger bestehende Abwärtstrend auch in den nächsten Jahren fortsetzen wird. Die Gewerkschaften haben ausgerechnet unter den Beschäftigtengruppen den geringsten Zuspruch, deren Bedeutung für den Arbeitsmarkt künftig weiter zunehmen dürfte: bei Angestellten, Jüngeren und Akademikern.
Gewerkschaften: Strukturdefizite verstärken sich
Institut der deutschen Wirtschaft (IW)
In Deutschland war zuletzt nur noch jeder sechste Arbeitnehmer Mitglied einer Gewerkschaft. Eine Analyse der Mitgliederstruktur lässt befürchten, dass sich der schon länger bestehende Abwärtstrend auch in den nächsten Jahren fortsetzen wird. Die Gewerkschaften haben ausgerechnet unter den Beschäftigtengruppen den geringsten Zuspruch, deren Bedeutung für den Arbeitsmarkt künftig weiter zunehmen dürfte: bei Angestellten, Jüngeren und Akademikern.
Eine Auswertung der letzten durchgeführten und verfügbaren Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) zeigt, dass 2018 nur noch 16,7 Prozent aller abhängig Beschäftigten Mitglieder einer Gewerkschaft waren. Dabei sind Männer mit 19,1 Prozent öfter als Frauen organisiert, die auf 14,1 Prozent kommen (Abbildung). Diese Differenz hat sich seit 2008 aber fast halbiert. Lag der Unterschied zwischen Frauen und Männern 2008 noch bei 10,7 Prozentpunkten, betrug er 2018 nur noch die Hälfte (5,5 Prozentpunkte). Eine weitere Angleichung lässt sich zwischen West- und Ostdeutschland beobachten. Im Westen sank der Organisationsgrad zwischen 2008 und 2018 von 19,8 auf 16,9 Prozent. Damit näherte er sich dem konstant niedrigeren Niveau des Ostens an, das zuletzt bei 15,7 Prozent lag. Die für 2018 beobachteten Organisationsgrade stellen einen neuen Tiefststand dar. Eine nachhaltige Trendwende der negativen Mitgliederentwicklung ist trotz der Erfolge einzelner Gewerkschaften, die (wie etwa die IG Metall oder die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft) ihren Mitgliederschwund zumindest vorübergehend aufhalten oder (wie die Gewerkschaft der Polizei oder der dbb Deutscher Beamtenbund und Tarifunion) sogar umkehren konnten, nicht abzusehen. Denn 2018 sind dieselben Strukturprobleme wie in vorangegangenen Jahren und Analysen zu beobachten (vgl. etwa Biebeler/Lesch, 2015; Schneider, 2018; Hassel/Schröder, 2018): Gruppen, die eine zunehmende Bedeutung am Arbeitsmarkt gewinnen, haben eine tendenziell sinkende Neigung, sich zu organisieren. Das gilt vor allem für Angestellte, Jüngere und Akademiker.
Von besonderer Bedeutung sind die Angestellten, weil sie im Kontext der Tertiarisierung eine stark wachsende Gruppe sind. Laut ALLBUS waren im Jahr 2008 nur 57,2 Prozent der befragten Beschäftigten Angestellte, zehn Jahre später waren es 70,9 Prozent. Angestellte sind im Vergleich zu den Beamten und Arbeitern traditionell schlechter organisiert (Biebeler/Lesch, 2006, 7). Erklärt wird dies durch eine größere Homogenität der ersten beiden Gruppen (Fitzenberger et al., 2006, 8; Schnabel/Wagner, 2006, 6). Besonders problematisch ist aus Sicht der Gewerkschaften, dass sich dieser Unterschied zwischen 2008 und 2018 weiter verstärkt hat. Während die Organisationsgrade von Beamten und Arbeitern relativ konstant blieben, fiel der Anteil bei den Angestellten um 3 Prozentpunkte von 16,8 auf 13,8 Prozent.
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Ein zweites Problem ist die Altersstruktur der Gewerkschaftsmitglieder (Biebeler/Lesch, 2006, 5 ff.). Jüngere sind seltener als Ältere organisiert. Scheidet eine alte Generation aktiver Gewerkschaftler mit der Zeit aus dem Berufsleben aus, entsteht demnach eine Lücke, wenn folgende, weniger gewerkschaftsaffine Generationen konstante Präferenzen hinsichtlich einer Gewerkschaftsmitgliedschaft haben. Keine Lücke würde entstehen, wenn Beschäftigte ihre Präferenzen im Zeitverlauf ändern und sich im Laufe der Zeit stärker den Gewerkschaften zuwenden. Eine Analyse der ALLBUS-Daten spricht eher für Ersteres. Während 2008 noch 18,3 Prozent der 40- bis 49-Jährigen und 24,8 Prozent der über 50-Jährigen organisiert waren, fielen diese beiden Quoten 2018 auf 14,4 Prozent und 19,2 Prozent. Bildet man den Organisationsgrad in Abhängigkeit der Altersklassen im Vergleich 2008 und 2018 um eine Dekade versetzt ab (vergleicht man also 2008 noch die 30- bis 39-Jährigen mit den 2018 40- bis 49-Jährigen usw.), so zeichnet sich ein relativ deutliches Bild zeitkonstanter Einstellung zur Gewerkschaftsmitgliedschaft. Bei diesem intertemporalen Vergleich ist zu beachten, dass die ALLBUS kein Panel, sondern eine repräsentative Befragung ist.
Ein drittes Problem stellt die niedrige Organisationsneigung der Akademiker dar. Ihr Anteil an der gesamten Arbeitnehmerschaft wuchs in den letzten zehn Jahren von 29,9 auf 40 Prozent. Gleichzeitig ging der Anteil der organisierten Akademiker um 4,2 Prozentpunkte auf 15,6 Prozent zurück. Da die wachsenden Anteile von Frauen, Angestellten und Akademikern kein temporäres Phänomen bleiben dürften, müssen die Gewerkschaften in diesen Gruppen besser Fuß fassen.
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