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Carolin Denise Fulda IW-Kurzbericht Nr. 83 5. Oktober 2022 Gewerkschaften: Weniger Repräsentativität durch Strukturdefizite?

Im Jahr 2021 lag der gewerkschaftliche Netto-Organisationsgrad in Deutschland bei 17,4 Prozent. Damit ist, ähnlich wie 2018, jeder sechste Arbeitnehmer Gewerkschaftsmitglied. Während sich die Konstellation des Arbeitsmarktes jedoch stetig verändert, entwickelt sich die Mitgliederstruktur der Arbeitnehmerverbände nicht immer im Einklang dazu.

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Weniger Repräsentativität durch Strukturdefizite?
Carolin Denise Fulda IW-Kurzbericht Nr. 83 5. Oktober 2022

Gewerkschaften: Weniger Repräsentativität durch Strukturdefizite?

Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Institut der deutschen Wirtschaft (IW)

Im Jahr 2021 lag der gewerkschaftliche Netto-Organisationsgrad in Deutschland bei 17,4 Prozent. Damit ist, ähnlich wie 2018, jeder sechste Arbeitnehmer Gewerkschaftsmitglied. Während sich die Konstellation des Arbeitsmarktes jedoch stetig verändert, entwickelt sich die Mitgliederstruktur der Arbeitnehmerverbände nicht immer im Einklang dazu.

 Diese Dynamik verstärkt die Strukturdefizite in den Gewerkschaften. Um deren Organisationsfähigkeit zu stärken, müsste die Mobilisierung von Beschäftigtengruppen, deren quantitative Bedeutung auf dem Arbeitsmarkt zunimmt, mehr im Fokus stehen. Aktuelle Herausforderungen wie Pandemie und Inflation bieten den Gewerkschaften eine Chance, Interesse bei weniger organisierten Beschäftigtengruppen zu wecken.

In einigen Branchen lagen die Tarifverhandlungen seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie 2020 monatelang auf Eis (Schulten/Specht, 2022). Geschlossene Betriebe, Kurzarbeit und Home-Office erschwerten sowohl die Verhandlungsbedingungen als auch den direkten Austausch innerhalb der Verbände. Besonders die Gewerkschaftsseite zählt für Mitgliederwerbung und Kommunikation stark auf die Präsenz in den Betrieben. Trotz des eingeschränkten Handlungsspielraums während des Lockdowns zeigt eine aktuelle Analyse der Mitgliederzahlen jedoch nur marginale Veränderungen seit 2018 auf. Das lässt sich angesichts der langfristigen Entwicklung durchaus als Erfolg werten. Von 1980 bis 2018 hatte sich der Netto-Organisationsgrad der Gewerkschaften in Deutschland von 32,5 Prozent auf 16,7 Prozent fast halbiert (Biebeler/Lesch, 2007; Lesch/Winter, 2021). Schon seit Jahrzehnten stellt aber nicht nur der absolute und relative Mitgliederschwund ein Problem dar, sondern auch zunehmende Strukturdefizite verstärken den Druck auf die Gewerkschaften (Schnabel, 2016; Schneider, 2018). Es reicht zur Beurteilung der aktuellen Lage demnach nicht aus, nur auf den Organisationsgrad zu schauen. Es muss auch die Organisationsstruktur in den Blick genommen werden. Konkret: Wie hat sich die Mitgliederstruktur der Gewerkschaften im Vergleich zur Struktur der Beschäftigten zwischen 2018 und 2021 entwickelt?

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Dieser Frage wird mithilfe von Daten der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) nachgegangen. Bis 2018 ließ sich der gewerkschaftliche Organisationsgrad mit den ALLBUS-Daten in einem zweijährigen Turnus ermitteln. Bei den jüngst im Sommer 2022 publizierten Daten liegen erstmals drei Jahre zwischen den Erhebungen, weil die Befragung im Pandemiejahr 2020 ausfiel. Die neuesten Daten wurden von Juni bis August 2021 erhoben. Damit erfassen sie auch die ersten eineinhalb Jahre seit Ausbruch der Corona-Pandemie im März 2020. Die ALLBUS ist keine Panelbefragung, sondern stützt sich jedes Jahr auf eine neue Zufallsstichprobe aus der Bevölkerung (GESIS, 2022). Die Stichprobengröße fiel 2021 mit 5.342 Befragten deutlich höher aus als in den Vorjahren. Auch auf den Anteil der abhängig Beschäftigten an der gesamten Stichprobe entfallen mit n = 2.613 über 900 Personen mehr als im letzten Erhebungsjahr (2018: n = 1.689). Abhängig Beschäftigte sind aktive Arbeitnehmer, die in der ALLBUS angaben, hauptberuflich als Beamter, Richter, Berufssoldat, Angestellter oder Arbeiter tätig zu sein.

Laut ALLBUS-Daten lag der Anteil der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer bei 17,4 Prozent. Zur Berechnung des Organisationsgrads wurden nur abhängig Beschäftigte berücksichtigt. Dieser sogenannte Netto-Organisationsgrad liegt damit zwischen den Werten, die 2018 mit 16,7 Prozent und 2016 mit 18,5 Prozent ermittelt wurden. Der gegenüber 2018 berechnete Anstieg von 0,7 Prozentpunkten ist statistisch allerdings nicht signifikant. Es kann sich demnach um eine zufällige Abweichung in der Stichprobe handeln, die sich nicht auf die Gesamtbevölkerung übertragen lässt.

Gute Nachrichten für die Gewerkschaften kommen aus dem öffentlichen Dienst. Der öffentliche Sektor ist grundsätzlich überdurchschnittlich organisiert. Das wird darauf zurückgeführt, dass dieser Wirtschaftszweig eine leichter zu organisierende, homogene Struktur mit beständiger Zielgruppe aufweist (Schnabel, 2016). So wird denn auch der rein deskriptiv gemessene Anstieg des gesamten Organisationsgrads in den ALLBUS-Daten 2021 vor allem von den Beamten angetrieben. Im Vergleich zu den Vorjahren sind Personen mit Beamtenstatus tendenziell wieder deutlich besser organisiert. Durch einen Anstieg um mehr als 10 Prozentpunkte gegenüber der Erhebung aus dem Jahr 2018 liegt der Organisationsgrad sogar nur leicht unter dem Durchschnittswert von 39,8 Prozent, der für die Erhebungsjahre 2002 bis 2006 ermittelt wurde (Biebeler/Lesch, 2007).

Mit lediglich 8,2 Prozent macht diese Gruppe jedoch nur einen geringen Anteil der Arbeitnehmerschaft aus. Dem steht eine heterogene Gruppe von mehr als 90 Prozent Angestellten und Arbeitern gegenüber, deren Organisationsneigung eher unverändert geblieben ist. Dabei sind Arbeiter mit einem Organisationsgrad von 21,9 Prozent (2018: 22,0 Prozent) weiterhin überdurchschnittlich gut organisiert, während Angestellte seltener Mitglied in einer Gewerkschaft sind. Im Jahr 2021 waren es nur 13,7 Prozent (2018: 13,8 Prozent). Die größte und permanent wachsende Berufsgruppe auf dem deutschen Arbeitsmarkt ist damit in den Arbeitnehmerverbänden unterrepräsentiert. Ein strukturelles Defizit, das bereits seit einigen Jahren zu beobachten ist (Biebeler/Lesch, 2015; Lesch/Winter, 2021).

Der Arbeitsmarkt verändert sich jedoch nicht nur im Hinblick auf die Berufsgruppen der Beschäftigten, sondern auch auf deren Ausbildungsstand. Hatten 2008 noch 29,9 Prozent der abhängig Beschäftigten einen akademischen Bildungsgrad, ist diese Zahl bis 2018 auf 40,0 Prozent gestiegen (Lesch/Winter, 2021). Allein in den letzten drei Jahren kamen wiederum 6,7 Prozentpunkte dazu. Damit machen Akademiker fast die Hälfte des Arbeitsmarktes aus, Tendenz steigend. Aber auch hier zeigen die ALLBUS-Daten einen unverändert niedrigen Organisationsgrad von 15,4 Prozent auf.

Und wie steht es um die Gewerkschaftsstruktur hinsichtlich soziodemografischer Merkmale der Mitglieder? Obwohl sich der Anteil von Männern und Frauen unter abhängig Beschäftigten annähert, fällt es den Gewerkschaften weiterhin schwer, Frauen für eine Mitgliedschaft zu mobilisieren. Über die letzten Jahre hinweg ist die Diskrepanz zwischen der Organisation von Männern und Frauen stetig gestiegen. Lagen 2018 noch 4,9 Prozentpunkte zwischen dem Organisationsgrad von Männern und Frauen, waren es 2021 ganze 7,0 Prozentpunkte.

Zudem spiegelt sich auch der Alterungsprozess der Gesellschaft deutlich in der Mitgliederstruktur der Gewerkschaften wider (Biebeler/Lesch, 2015; Schneider, 2018; Lesch/Winter, 2021). Weiterhin scheinen sich junge Arbeitnehmer schwerer von einer Gewerkschaftsmitgliedschaft überzeugen zu lassen. Während die Altersspanne von 18 bis 49 Jahren in den Gewerkschaften unterrepräsentiert ist, scheiden die besser organisierten Über-50-Jährigen nach und nach aus dem Berufsleben aus.

Eine signifikante Veränderung des Netto-Organisationsgrads sowie der gewerkschaftlichen Mitgliederstruktur ist in den ALLBUS-Daten zum Erhebungszeitpunkt 2021 nicht sichtbar. Auffällig sind die beobachteten Veränderungen in der Zusammensetzung des gesamten Arbeitsmarktes, während die Gewerkschaftsstruktur weitestgehend gleichblieb. Um dies zu kompensieren, müssten die Gewerkschaften ihr Potenzial bei der Rekrutierung von Angestellten und Beschäftigten mit akademischem Bildungsgrad sowie Frauen und jüngeren Arbeitnehmern mehr ausschöpfen.

Ohnehin wird die Durchsetzungskraft der Gewerkschaften angesichts der Pandemie und der aktuell hohen Inflation deutlich auf die Probe gestellt. Einerseits stehen Gewerkschaften unter Druck, die Reallöhne ihrer Mitglieder möglichst zu sichern. Andererseits tragen sie gesamtwirtschaftliche Verantwortung und müssen eine Lohn-Preis-Spirale vermeiden. Diese Herausforderung könnte aber auch eine Chance bedeuten, um den Mehrwert einer Gewerkschaftsmitgliedschaft für die Arbeitnehmer deutlich zu machen und auch bisher schlechter organisierte Beschäftigtengruppen anzusprechen.

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