Europas Politiker hatten große Hoffnungen: Wirtschaftliche Sanktionen sollten Putins Angriffskrieg stoppen. Die IW-Ökonomen Melinda Fremerey und Simon Gerards Iglesias erklären im Interview mit t-online.de, warum das nicht passierte und warum sie trotzdem sinnvoll sind.
Sanktionen gegen Russland: „Putin ist gescheitert”
Frau Fremerey, Herr Iglesias, der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine zieht sich mittlerweile mehr als anderthalb Jahre. In der Zeit haben westliche Staaten eine ganze Reihe von Sanktionen gegen Russland verhängt, doch bisher hat das nicht zu einem Einlenken Russlands geführt. Haben die Sanktionen versagt?
Gerards Iglesias: Die Sanktionen sind ganz klar gescheitert – zumindest gemessen an den Erwartungen, die westliche Politiker hatten. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat damals versprochen, dass die Sanktionen Russland am Weiterführen des Krieges hindern würden. Das ist ganz offensichtlich nicht passiert. Es gab die falsche Annahme, dass die Sanktionen kurzfristig wirken können. Dabei haben die Politiker die Anpassungsfähigkeit und die jahrelange Vorbereitung Russlands unterschätzt.
Fremerey: Aber es gibt auch lohnende Ansätze bei den Sanktionen. Der Ölpreisdeckel und die Sekundärsanktionen sind sinnvoll. Damit sie ihre volle Wirksamkeit entfalten können, müssten sie aber viel strenger überwacht und nachgeschärft werden. Dennoch sind wir der Meinung: Die Sanktionen wirken – auf lange Sicht.
Wie konnte es trotzdem zu dieser Fehleinschätzung kommen?
Gerards Iglesias: Wir blicken aus einer westlichen, demokratischen Sicht auf den Krieg. Bei uns hat die Meinung der Zivilbevölkerung durch Wahlen und Proteste ein deutlich größeres Gewicht. In Russland hingegen entscheidet vor allem eine kleine Machtelite, die kann Putin leichter kontrollieren.
Fremerey: Das größte Manko der westlichen Sanktionen ist, dass sie löchrig sind. Viele Staaten haben sie nur in Teilen mitgetragen. Die Türkei etwa war lange Zeit ein Umschlagplatz für Grauimporte nach Russland. Das untergräbt dann die Bemühungen, durch wirtschaftliche Sanktionen Veränderung zu erzielen.
Wie steht es aktuell um die russische Wirtschaft?
Fremerey: Russland leidet unter dem Rohstoff-Fluch. Das heißt, dass Russland durch das starke Exportgeschäft mit Rohstoffen die Entwicklung anderer Industriezweige vernachlässigt hat. Die meisten Energiekonzerne in Russland sind Monopole, die dem Staat gehören oder staatsnah sind. Dadurch besteht eine besonders große Abhängigkeit.
Hinzu kommt, dass Russland einen signifikanten Teil der Rohstoffe in den Westen exportiert hat. Durch Sanktionen, aber auch durch den von Russland selbst verhängten Exportstopp fällt das weg. Wie schwer ist das zu verkraften?
Fremerey: Das Öl- und Gasgeschäft machte vergangenes Jahr 42 Prozent der Gesamteinnahmen des Staatshaushaltes in Russland aus. Von den weltweit fünf größten Exporteuren dieser Brennstoffe hatte Russland vor dem Krieg die zweitgrößte Abhängigkeit von Abnehmerländern – mehr als die Hälfte floss in die EU, trotz aller hiesigen Pläne auf mehr grüne Energie zu setzen. Jetzt verkauft Russland deutlich mehr nach China und Indien. Damit fährt das Land recht gut.
Gerards Iglesias: Auf absehbare Zeit wird die gesamte Welt noch von fossilen Brennstoffen abhängig sein. Selbst bei Dekarbonisierungszielen bis 2045 sind das noch mehr als 20 Jahre. Es ist daher eine Frage des Zeithorizonts: Putin ist 71 Jahre alt und wird wohl nicht mehr erleben, dass die Bedeutung dieser Rohstoffe abnimmt. Dabei weiß er ganz genau, dass die Probleme der russischen Wirtschaft tiefer liegen als die aktuellen Sanktionen.
Woran machen Sie das fest?
Gerards Iglesias: In seinem "Millennium Manifest" aus dem Jahr 1999 schreibt er ganz klar, dass Russland eine innovationsgetriebene Ökonomie werden muss. Bereits damals hat er erklärt, dass Russland sich dafür aus der Abhängigkeit des Rohstoffhandels lösen muss. Passiert ist danach allerdings wenig.
Ist Putin also wirtschaftspolitisch gescheitert?
Gerards Iglesias: Wenn man ihn an seinen eigenen Maßstäben aus dem Manifest misst, ist es eindeutig: Putin ist gescheitert.
Das gipfelt nun in Meldungen wie vor einigen Wochen: Ein russisches Flugzeug musste in Sibirien notlanden. Wegen der Sanktionen fehlten wichtige Ersatzteile.
Fremerey: Genau hier werden die Sanktionen spürbar. Auch die Bevölkerung bekommt das im Alltag mit. So war zwischenzeitlich kein Kassenbonpapier in Russland verfügbar und nachdem McDonalds sich aus Russland zurückgezogen hat, gab es zunächst keine Pommes mehr. Allerdings versucht Russland über Grau- und Drittländerimporte solche Engpässe zu umgehen. So wird beispielsweise gemunkelt, dass deutsche Kühlschränke über Kasachstan nach Russland kommen, um daraus benötigte Mikrochips auszubauen. Letztlich ist die Verfügbarkeit von Gütern oft nur eine Frage des Preises.
Wie kann es sein, dass die russische Bevölkerung auch spürbare Einschränkungen scheinbar akzeptiert?
Fremerey: Ein Blick in den russischen Haushalt zeigt: Putin investiert in Unterdrückungsmaßnahmen: Das Strafmaß für Proteste und Ähnliches wurde massiv hochgesetzt. Gleichzeitig wird der Sozialstaat weiter ausgebaut, um die wirtschaftlichen Folgen für die Bevölkerung abzuschwächen. Wir nennen das eine Guns-and-Butter-Politik.
Gerards Iglesias: Und Putins System funktioniert. In Umfragen ist der Zuspruch zu Putin und der Regierung besonders hoch.
In Deutschland ist hingegen die Zustimmung zu den Sanktionen weiterhin hoch. Doch trotz der Unterstützung befürchten viele Menschen, dass die Sanktionen Deutschland wirtschaftlich härter treffen als Russland. Wie berechtigt ist diese Sorge?
Gerards Iglesias: Die Sorgen sind berechtigt. Akut wird Deutschland stärker getroffen als Russland. Die hohen Energiepreise, aber auch die generellen Verwerfungen in der Weltwirtschaft spüren wir deutlich. Umso interessanter ist es, dass so viele Menschen bereit sind, das in Kauf zu nehmen und die Sanktionen unterstützen.
Deutschland versucht unabhängiger von Russland zu werden. Das betrifft vor allem den Energiebereich. Wie gut gelingt das?
Fremerey: Die Gasspeicherstände werden derzeit nicht mehr so akribisch verfolgt wie im vergangenen Jahr. Es hat sich viel getan, gerade der Aufbau der LNG-Terminals ging ungewöhnlich schnell. Dennoch bleiben die Preise höher als vor dem Krieg, denn Flüssiggas ist etwa ein Drittel teurer als Pipelinegas. Die Energiebörsen sind sehr volatil, wir spüren bereits jetzt die Auswirkungen der nächsten Krise. Der Hamas-Angriff auf Israel hat schon Einfluss auf den Ölmarkt.
Auch wenn es dieser Tage umso schwerer erscheint, wagen wir einen Blick in die Zukunft: Wird Deutschland im Falle eines Friedens zwischen Russland und der Ukraine wieder wie vorher Handel treiben?
Gerards Iglesias: Nein, die Entkopplung von Russland ist unumkehrbar. Im Energiebereich werden kaputte Pipelines nicht mehr repariert. Noch entscheidender ist allerdings der freiwillige Exodus westlicher Unternehmen aus Russland. Das war teils mit enormen Kosten verbunden und es ist vollkommen unrealistisch, dass sie alle wieder zurückkehren.
Wie gefährlich ist die neue Nähe von Russland und China?
Fremerey: Das ist ein zweischneidiges Schwert. Ja, China ist ein größerer Abnehmer russischer Energie geworden, dadurch hat sich die Blockbildung in gewisser Weise verschärft. Gleichzeitig will China den Westen nicht als Handelspartner verlieren. Russland hat auf jeden Fall größeres Interesse an China als umgekehrt.
Gerards Iglesias: Die vielen Krisen, darunter auch die Klimakrise, werden immer häufiger Störungen im Welthandel verursachen. Eines ist klar: Die bisherige Weltordnung gibt es nicht mehr. Die grenzenlose Globalisierung der 1990er-Jahre ist vorbei.
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