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Holger Schäfer / Martin Gaedt im Streitgespräch bei watson Interview 4. Juli 2023

Streitthema: Müssen wir für die Vier-Tage-Woche auf Wohlstand verzichten?

Es weht ein neuer Wind durch die Arbeitszeitgestaltung in Deutschland: Die Vier-Tage-Woche ist in die Diskussion gekommen, um zu bleiben. watson hat mit IW-Arbeitsmarktexperte Holger Schäfer und Unternehmer Martin Gaedt im Streitgespräch über Vor- und Nachteile dieses Arbeitszeitmodells gesprochen.

An welchem Punkt stehen wir gerade in der Diskussion um die Vier-Tage-Woche, Herr Schäfer?

Schäfer: Die Arbeitszeit ist eine Frage, die Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen verhandeln. In der Regel werden da auch sehr individuelle Lösungen vereinbart. Von einem "Leitbild Fünf-Tage-Woche" kann man eigentlich gar nicht sprechen. Zwar arbeiten die meisten in einer Fünf-Tage-Woche, aber wir sind da eigentlich schon sehr flexibel.

Was sagen Sie, Herr Gaedt?

Gaedt: Dem stimme ich zu. Und während es immer heißt, die Vier-Tage-Woche ginge nicht in der Produktion oder im Handwerk, in der Pflege oder in Kitas, sind gerade das alles Bereiche, wo sie längst praktiziert wird. Unternehmen berichten von Absagen, weil sie keine Vier-Tage-Woche anbieten.

Holger Schäfer: „Dann müssen wir natürlich auch in Kauf nehmen, dass wir weniger Dinge produzieren, weniger konsumieren und weniger verteilen können.”

Aufgrund des Fachkräftemangels ist es für Arbeitnehmer:innen leichter, zu sagen "Das Unternehmen ist nicht attraktiv für mich, dann gehe ich woanders hin". Doch das könnte sich wieder ändern...

Schäfer: Es gibt natürlich auch Unternehmen, die sagen "Nein, das ist für uns kein geeignetes Modell". Wenn ich Tarifautonomie und Entscheidungsfreiheit von Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen respektiere, dann auch in diese Richtung.

Auf der anderen Seite steht aber die Frage: Was passiert volkswirtschaftlich, wenn wir alle weniger arbeiten? Dann müssen wir natürlich auch in Kauf nehmen, dass wir weniger Dinge produzieren, weniger konsumieren und auch weniger verteilen können. Das ist die Konsequenz daraus, über die man sich im Klaren sein muss.

Gaedt: Meiner Meinung nach müssten wir viel mehr über Leistungsfähigkeit reden. Da berichten die Unternehmen beispielsweise: der Krankenstand habe sich in wenigen Wochen halbiert. Wir hatten letztes Jahr in Deutschland die höchste Rate an Krankmeldungen in Unternehmen. Was diese laut "Wirtschaftswoche" 42 Milliarden Euro gekostet hat. Weniger Arbeitszeit gleich weniger Leistung: Die Rechnung stimmt so gar nicht. Der Wille der Unternehmer:innen ist da, die Leistungsfähigkeit ihrer Mitarbeiter:innen zu erhalten.

Gibt es da ein Beispiel aus der Praxis?

Gaedt: So hatte zum Beispiel eine Steuerberatung sich überlegt, da in der Corona-Pandemie so viele neue Verordnungen dazu kamen, wie sie ihre Mitarbeiter:innen, die kurz vorm Burnout waren, entlasten können: Von zehn bis 12 und von 14 bis 15 Uhr klingelt kein Telefon und E-Mails werden nur noch zweimal am Tag zugestellt. Die Mitarbeiter:innen arbeiten zudem nur noch 34 Stunden bei vollem Lohn, dafür stressfreier und mit weniger Krankentagen. Es geht nicht nur um eine zeitliche Reduzierung, sondern die Unternehmen führen echte Innovationen ein.

Holger Schäfer: „Volkswirtschaftlich gesehen ist es utopisch, daran zu glauben, man könnte eine Arbeitszeitverkürzung von 20 Prozent durch Produktivitätssteigerung ausgleichen.”

Schäfer: Im Grunde genommen kann sich ja jeder selbst überlegen, ob er die Arbeit, die er bisher in fünf Tagen macht, auch in vier Tagen machen kann und was das für die Arbeitsverdichtung bedeutet. Volkswirtschaftlich gesehen ist es utopisch, daran zu glauben, man könnte eine Arbeitszeitverkürzung von 20 Prozent durch Produktivitätssteigerung ausgleichen. Um das zu kompensieren, wäre Produktivitätssteigerung von 25 Prozent nötig. Das ist der gesamte Produktivitätsfortschritt seit 1999. Ich glaube, diese Produktivitätssteigerung, die man sich da erhofft, die kommt nicht.

Gaedt: Aber die Produktivitätssteigerung von 25 Prozent passiert ja faktisch bereits in den Unternehmen, die die Vier-Tage-Woche umsetzen. Das hat man aus den letzten Jahren gelernt: die Leute werden, wenn die Arbeitsverdichtung zunimmt, kränker. Deswegen versuchen Unternehmen nicht nur Arbeitszeit, sondern Arbeitsbelastung zu reduzieren. Alle Unternehmen, mit denen ich gesprochen habe, haben gesagt: Wir waren überrascht, dass wir Dinge streichen konnten, von denen wir dachten, sie seien unverzichtbar. Das heißt, es gibt überall Möglichkeiten für Produktivitätssteigerung. Garantiert.

Welche Konsequenzen hätte die Einführung einer Vier-Tage-Woche noch?

Schäfer: Wenn wir uns unsere demografische Situation ansehen, dann stehen wir vor einer dramatischen Verknappung der Arbeitskräfte, die 2030 ihren Höhepunkt erreicht. Der Jahrgang 1963, das sind 1,4 Millionen, die aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden, müssen erstmal ersetzt werden. Durch einen Jahrgang, der in Zahlen nur halb so groß ist.

Gaedt: Genau deswegen müssen wir über Leistungsfähigkeit reden. Wenn wir weniger Arbeitskräfte zur Verfügung haben, müssen wir dafür sorgen, dass die, die da sind, gesünder bleiben.

Ist die Vier-Tage-Woche also vielleicht sogar etwas, das wir einführen müssen?

Schäfer: Die Kontroverse ist ja nicht so sehr, ob fünf oder vier Tage gearbeitet werden. Die Kontroverse ist: Kann ich die Arbeitszeit verkürzen und trotzdem verdienen wir alle das gleiche? Weniger Arbeitszeit heißt, es wird weniger produziert. Man könnte auch mit weniger auskommen, klar. Aber die Menge von Gütern und Dienstleistungen, die wir produzieren, definiert eben auch das, was wir umverteilen oder nutzen können. Das ist der gesamte Wohlstand der Gesellschaft.

Gaedt: Es kann ja nicht das einzige Kriterium sein, dieselbe Menge an Dingen herzustellen, sondern wir müssen das Ganze auch im Rahmen von Nachhaltigkeit und Klimaschutz betrachten. Die Vier-Tage-Woche ist eine echte Maßnahme zur Reduzierung von CO₂. Das Handwerk beispielsweise arbeitet klassisch am Freitag nur bis mittags. Deswegen setzt sich auch die Vier-Tage-Woche aktuell dort so stark durch, weil ganz viele Handwerksbetriebe merken: Diesen unproduktiven Freitag können wir unseren Mitarbeiter:innen schenken, wenn wir den Rest der Woche etwas dranhängen. Wir sparen am Freitag damit eine Menge Energiekosten und CO₂.

Können wir nicht ohnehin davon ausgehen, dass künftig mehr Arbeit von KI-gestützten Maschinen übernommen wird?

Schäfer: Der Mensch erfindet seit 100 Jahren Maschinen, die ihm Arbeit abnehmen. Und trotzdem ist uns in der ganzen Zeit nie die Arbeit ausgegangen. Das liegt daran, dass zwar neue Technologien Arbeit abnehmen, aber auf der anderen Seite erzeugen diese auch neue Produkte, neue Dienstleistungen, die dann nachgefragt werden – und für deren Erzeugung wieder Arbeitskraft benötigt wird. Es heißt aber auch, dass uns die Technologie wahrscheinlich nicht vor der massiven Arbeitskräfteknappheit retten wird. Die künstliche Intelligenz wird am Ende nicht dazu führen, dass uns die Probleme der Arbeitskraft im Kontext der Demografie erspart bleiben.

Zum Streitgespräch auf watson.de

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