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(© Foto: josemoraes/iStock)
Hans-Peter Klös in den WSM Nachrichten Interview 18. Oktober 2016

"Die Digitalisierung wird zu mehr Beschäftigung führen"

IW-Bildungsökonom Hans-Peter Klös hat dem Magazin des Wirtschaftsverbands Stahl- und Metallverarbeitung ein Interview zur Personalentwicklung in Zeiten von Digitalisierung und Industrie 4.0 gegeben.

Wie beurteilt das IW die aktuelle Lage am Arbeitsmarkt, insbesondere im Bereich MINT (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik)?

Die Arbeitsmarktsituation in Deutschland ist geprägt von einem historischen Höchststand bei der Beschäftigung, einer Rekordzahl von offenen Stellen, einem Tiefstand bei der Arbeitslosigkeit, einer steigenden Zahl von unbesetzten Lehrstellen, und im internationalen Vergleich schneidet Deutschland sehr günstig ab.

Die Zahl der Engpässe am Arbeitsmarkt nimmt zu. Nach der Analyse der Bundesagentur für Arbeit gibt es zunehmend Engpässe in einer ganzen Reihe technischer Berufsfelder sowie in einigen Gesundheits- und Pflegeberufen. Bei Fachkräften und Spezialisten werden Mangelsituationen aktuell stärker sichtbar als früher. Nach der IW-Engpassanalyse gab es zuletzt bereits über 200 Engpassberufe. Etwa zwei Drittel der schwierig zu besetzenden Stellen entfallen auf beruflich qualifizierte Fachkräfte.

Die MINT-Arbeitskräftelücke lag im August 2016 bei rund 195.000 Personen und damit rund ein Viertel höher als im August des Vorjahres. Die Arbeitslosigkeit ist in sämtlichen MINT-Berufsgruppen gesunken, die Arbeitskräftenachfrage dagegen gestiegen: Mit gut 390.000 offenen Stellen sind fast zehn Prozent mehr Stellen in technisch-naturwissenschaftlichen Berufen zu besetzen als im Vorjahr. Rund zwei Drittel der Fachkräftelücke im MINT-Bereich entfällt dabei auf die nichtakademischen Berufskategorien der Facharbeiter, Meister und Techniker.

Wie schätzen Sie die Arbeitsmarktperspektiven in der kurzen und mittleren Frist ein?

Der seit 2011 anhaltende kräftige Beschäftigungsaufbau wird sich in diesem und im nächsten Jahr wohl noch fortsetzen, allerdings in vermindertem Tempo. Bedingt durch die Zunahme des Arbeitskräfteangebots infolge der Zuwanderung kann der Abbau der Arbeitslosigkeit mit dem Entstehen neuer Arbeitsplätze aber nicht mithalten. Die Auswirkungen der Flüchtlingsmigration auf den Arbeitsmarkt sind bisher zwar noch überschaubar, werden aber nach und nach immer deutlicher hervortreten.

Umstritten sind die erwarteten mittelfristigen Folgen der Digitalisierung für den Arbeitsmarkt. „Die Technik ändert sich, die Regeln der Ökonomie bleiben die gleichen.“ Dies schrieben sinngemäß Carl Shapiro und Hal Varian, der heutige Chefökonom von Google, in ihrem Klassiker „Information Rules“ aus dem Jahr 1999. Gut fünfzehn Jahre später sind viele von der Gültigkeit dieser optimistischen Einschätzung nicht mehr überzeugt. Vielmehr hat sich bezüglich der Arbeitsmarkteffekte in der Öffentlichkeit eher das Bild des arbeitsplatzsparenden technischen Fortschritts, des erhöhten Flexibilitätsdrucks auf das Beschäftigungsverhältnis und des „entgrenzten“ digitalen Arbeitens festgesetzt.

Fraglos wird die Digitalisierung Einfluss auf den Qualifikationsmix haben. In einem „Spezialisierungsszenario“ – vereinfacht: der Mensch steuert die Maschinen – dürften die Beschäftigungseffekte und auch die Bedarfe an Facharbeit gegenüber einem „Automatisierungsszenario“ – vereinfacht: der Mensch unterstützt die Maschine nur – deutlich günstiger ausfallen. Vieles spricht dafür, dass die Folgen der Digitalisierung für den Arbeitsmarkt nicht nur beherrschbar sind, sondern per Saldo eher zu mehr als zu weniger Beschäftigung führen werden. Eine IW-Studie kommt zu dem Ergebnis, dass für Deutschland auf absehbare Zeit keine negativen Beschäftigungseffekte zu erwarten sind. Vielmehr plant rund ein Drittel der digitalisierten Unternehmen eine Aufstockung des Personalbestandes, nur jeder zehnte digitalisierte Betrieb möchte Personal abbauen.

Die Unternehmen in der Stahlverarbeitung benötigen neben Akademikern auch beruflich ausgebildete Fachkräfte, überdies bilden sie gerne aus. Sowohl bei gewerblichen Fachkräften wie bei Auszubildenden hören wir immer öfter von Schwierigkeiten bei der Stellenbesetzung. Was raten Sie den Arbeitgebern im Hinblick auf das Recruiting?

In den meisten Branchen in Deutschland gab es in den vergangenen Jahren einen deutlichen Beschäftigungsanstieg. Dies war allerdings für die Stahlverarbeitung nicht der Fall. Die Zahl der Beschäftigten blieb in den vergangenen zehn Jahren weitgehend konstant bei 98.000. Der Großteil findet sich in technischen und kaufmännischen Berufen wieder. Während in kaufmännischen Berufen keinerlei Fachkräfteengpässe festzustellen sind, zeigen sich in einigen technischen Berufen (zum Beispiel bei für die Stahlindustrie relevanten Mechatronikern, Industrie- und Werkzeugmechanikern) schon längerfristig Knappheiten. Der Anteil unbesetzter Ausbildungsplätze nahm in diesen Berufen kontinuierlich zu.

Nach Analysen des Bundesinstituts für Berufsbildung nehmen generell die Passungsprobleme auf dem Ausbildungsmarkt zu: Das betriebliche Ausbildungsangebot und die Nachfrage der Jugendlichen lassen sich weniger gut zusammenführen. Insbesondere der Anteil der unbesetzten Stellen am betrieblichen Gesamtangebot ist gestiegen. Die demografische Entwicklung und der allgemeine Trend zur Höherqualifizierung machen es zunehmend schwerer, den Fachkräftenachwuchs im mittleren Qualifikationsbereich zu sichern. Nach dem letzten Lehrstellenreport des DIHK berichtet knapp ein Drittel der Betriebe, dass sie ihre Lehrstellen nicht besetzen können, ein steigender Anteil von Betrieben erhält gar keine Bewerbungen mehr. Die Betriebe stellen sich daher stärker auf leistungsschwächere Bewerber ein und weiten die Unterstützungsangebote für Leistungsschwächere aus, bieten Nachhilfe oder Praktika an, machen Angebote für Studienabbrecher und Abiturienten, positionieren sich als attraktive Arbeitgeber und unterstützen ihre Mitarbeiter bei der Fortbildung parallel zur Arbeit.

Sind die Unternehmen bei der Bewältigung der Herausforderung Fachkräftemangel allein auf sich gestellt oder rechnen Sie damit, dass von der Politik Unterstützung kommt? Wie könnte, wie müsste die aussehen?

Die Politik sollte weiterhin mit Hochdruck daran arbeiten, die vielbeschworene Durchlässigkeit des deutschen Bildungssystems zu erhöhen. Neue und bewährte Formen der Durchlässigkeit zwischen dualer und tertiärer Bildung bieten erstens duale Studiengänge, die ein stark expansives Modell einer passgenauen Qualifizierung darstellen. Dual Studierende sind mit einem Anteil von rund 70 Prozent überwiegend in praxisintegrierende duale Studienangebote eingebunden. Die Mehrheit der Studierenden hat eine Übernahmevereinbarung mit dem abstellenden Betrieb. Die Zufriedenheit mit den betrieblichen Studienbedingungen ist insgesamt hoch.

Zweitens können sich zwar seit dem KMK-Beschluss von 2002 beruflich Qualifizierte ihre Leistungen aus der Berufsausbildung und Aufstiegsfortbildung auf ein Hochschulstudium anrechnen lassen. Seit 2009 gelten überdies Abschlüsse der beruflichen Aufstiegsfortbildung als allgemeine Hochschulreife. Bewerber mit abgeschlossener Berufsausbildung und Berufserfahrung können die fachgebundene Hochschulreife durch eine Eignungsprüfung erhalten. Bisher ist aber die Praxis der Anrechnung beruflicher Leistungen bundesweit noch sehr uneinheitlich geregelt. Hier sollte daher nachgebessert werden, damit ein flexibler Wechsel zwischen akademischem Lernen und Berufstätigkeit erleichtert wird. Drittens liegen Potenziale in der weiteren Stärkung der Aufstiegsfortbildung, gerade im Bereich von Technikern, Fachwirten oder Meistern. Der Erwerb eines Fortbildungsabschlusses ist ein Karriereschritt für beruflich Qualifizierte, ein weiterer Ausbau daher wünschenswert.

Ist von den neu nach Deutschland gekommenen und noch kommenden Menschen eine Entspannung des Arbeitsmarktes zu erwarten?

2015 war das bisherige Rekordjahr der Zuwanderung mit mehr als zwei Millionen Menschen, die neu nach Deutschland gekommen sind. Wichtig ist dabei die Unterscheidung verschiedener Kategorien von Zuwanderung. Unbestritten ist die Zuwanderung im Rahmen der Freizügigkeit und der Drittstaatenmigration eine große Stütze für den deutschen Arbeitsmarkt. Ohne die Zuwanderung aus Mittel- und Osteuropa, aber auch aus Indien wären die Engpässe am Arbeitsmarkt – namentlich im MINT-Bereich – deutlich größer. Deutschland sollte sich daher weiterhin als attraktives Land für qualifizierte Zuwanderer präsentieren. Zudem sollte die Zuwanderung über das deutsche Hochschulsystem ausgebaut werden, die ein Königsweg einer potenzialorientierten Zuwanderung ist.

Die Integration von über einer Million Geflüchteten stellt Deutschland hingegen vor eine große Herausforderung. Der hohe Anteil derer, die aller Wahrscheinlichkeit nach bleiben können, ist deshalb möglichst schnell auszubilden und zu beschäftigen. Denn immerhin kann hier von einem überwiegend jungen Potenzial von mittelfristig wohl über 400.000 Erwerbspersonen ausgegangen werden. Doch Unternehmen, Berufsschulen und Multiplikatoren sehen sich noch immer mit zahlreichen Hemmnissen konfrontiert – seien es fehlende Kontakte zu Geflüchteten, die Einschätzung ihrer Potenziale und Förderbedarfe, rechtliche Unsicherheiten oder auch mangelnde Unterstützung und Information über geeignete Fördermöglichkeiten. Wie wichtig dabei vor allem die Sprache ist, zeigt der IW-Integrationsmonitor: Rund zwei Drittel der befragten Unternehmen sehen in fehlenden Deutschkenntnissen die wichtigste Beschäftigungshürde.

Was können die Unternehmen in dieser Situation tun, ohne die Lohn-/Preisspirale in Gang zu setzen?

Laut Statistischem Bundesamt sind die Arbeitskosten hierzulande bereits fünf Jahre in Folge schneller gestiegen als im EU-Durchschnitt. Allerdings hat die Produktivität nicht in gleichem Maße zugenommen, so dass die höheren Arbeitskosten voll auf die Lohnstückkosten durchschlagen. Ein weiteres Risiko für die preisliche Wettbewerbsfähigkeit stellt die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns für rund vier Millionen Arbeitnehmer dar. Nach bisherigen Erfahrungen wurden die mindestlohninduzierten Lohnkostensteigerungen auf die Preise überwälzt, vor allem in Ostdeutschland. Zudem ist die Abgabenquote aus Steuern und Sozialabgaben mit 39,4 Prozent auf den höchsten Wert seit dem Jahr 2000 angestiegen. Daraus folgt zweierlei: Erstens muss Deutschland generell auf seine Kosten achten, zweitens nimmt der Druck für Unternehmen stark zu, über eine steigende Produktivität die Kostenbelastungen wieder aufzufangen. Beide Trends setzen langsam ein Fragezeichen, wie lange der Aufschwung am Arbeitsmarkt wohl noch anhalten wird.

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