Die Agenda 2010 hat Deutschland aus der Stagnation befreit, schreibt IW-Direktor Michael Hüther auf focus.de. Nun muss die Regierung in einer Agenda 2020 die nächsten großen Probleme anpacken.
Die Agenda 2010 hat Deutschland gerechter gemacht
Um es gleich vorweg und zugespitzt zu formulieren: Die Agenda 2010 hat über ihre Arbeitsmarktwirkungen Deutschland gerechter gemacht. Denn jede Minderung der Arbeitslosigkeit reduziert zugleich das damit verbundene, bedeutende Armutsgefährdungsrisiko. Die Beschäftigung ist auf einem historischen Höchststand mit über 41,5 Millionen Erwerbstätigen, die Anzahl der registriert Arbeitslosen hat sich um fast 2,5 Millionen verringert. Die verstärkte Integration von Menschen in den Arbeitsmarkt hat sich erkennbar auch bei den Verteilungsrelationen ausgewirkt, seit 2006 sinkt das Maß für die Ungleichheit (Gini-Koeffizient) der Einkommensverteilung wieder, die Armutsgefährdungsquote hat sich seitdem stabilisiert (Anteil der Personen mit weniger als 60 Prozent des mittleren Wertes des bedarfsgewichteten Pro-Kopf-Nettoeinkommens) und der Anteil des Niedriglohnsektor an der gesamten Beschäftigung expandiert nicht mehr.
Diese Fakten sind zu Beginn so klar und ausführlich zu benennen, weil eine beliebte Kritik sich darauf zurückzieht, dass alles ganz anders sei, jedenfalls die amtlichen Zahlen gefälscht oder manipuliert seien. Es fällt überhaupt auf, dass die politischen Reaktionen auf die Agenda und ihre Wirkungen weit über das übliche Maß hinausgehen, ganz nach dem Motto, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Denn hätten die Kritiker von damals Recht behalten, dann dürfte es weder zu einem Rückgang der Arbeitslosigkeit, erst recht nicht der lange verfestigten Langzeitarbeitslosigkeit, noch zu einem Anstieg der Beschäftigung gekommen sein. Und bei neuen Jobs handelt es sich entgegen gepflegter Vorurteile keineswegs um prekäre Arbeitsverhältnisse. Der unbefristete Vollzeitjob war über die letzten zwei Jahrzehnte robust; während sich im Aufschwung 1998 bis 2000 die geringfügige Beschäftigung um zehn Prozent erhöht hatte, war dies von 2006 bis 2008 nur mit ein Prozent der Fall.
Die Kritik, die zu erheblichen politischen Veränderungen geführt hat, reflektiert die tiefsitzende Überzeugung jahrzehntelang eingeübter Sozialpolitik, dass mehr Geld auch stets mehr hilft und das Forderungen an den Hilfeempfänger unzumutbar, wenn nicht entwürdigend seien. Um das zu verändern, bedurfte es einer veritablen ökonomischen Krise. So reagierte die Bundesregierung mit der Agenda 2010 auf den unbestreitbaren Befund, dass Deutschland mit den seinerzeit gegebenen Strukturen des Arbeitsmarktes und der sozialen Sicherung nicht zukunftsfähig war und schon kurzfristig so aus der seit dem Herbst 2000 anhaltenden wirtschaftlichen Stagnation nicht herausfinden werde; die Arbeitslosenzahl stieg unaufhörlich auf über vier Millionen Menschen.
Die Agenda umfasste dabei neben den umstrittenen Arbeitsmarktreformen (vor allem Hartz I bis IV), Ansätze für eine Reform der Gesetzlichen Krankenversicherung und Gesetzlichen Rentenversicherung sowie umfangreiche steuerpolitische Änderungen. Doch im Kern stehen die Reformen für den Arbeitsmarkt (Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe, erstmalige Einbeziehung der erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger in die Arbeitsförderung, Umbau der Arbeitsverwaltung, verkürzte Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld I und Deregulierung des Kündigungsschutzes). Die Agenda 2010 hat dadurch der sozialen Sicherung einen neuen Boden eingezogen. Arbeit steht seitdem im Vordergrund, das Fördern wird gleichgewichtig durch das Fordern ergänzt.
Natürlich wäre es naiv und fahrlässig, wollte man behaupten, dass alle Besserungen auf die Agenda zurückgehen. Das Umfeld entwickelte sich günstig: Die Weltkonjunktur erholte sich ab 2004, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen hatte sich nach den vorangegangenen Restrukturierungen sowie gezielten Verlagerungen (Offshoring) deutlich verbessert und die Lohnpolitik hatte dazu mit ihrem 1997 eingeschlagenen Kurs der Beschäftigungsorientierung wesentlich beigetraten. Doch eine dynamische Wirtschaft ist kein Garant für eine Besserung am Arbeitsmarkt. Das hängt auch an den dafür bedeutsamen Regulierungen und sozialen Sicherungen.
Der Blick nach vorne macht deutlich, dass Deutschland dringend einer Vergewisserung des heute Notwendigen bedarf. Einerseits drängen sich Restarbeiten am Arbeitsmarkt auf wie die Bereinigung der parallelen Verwaltungsstrukturen von Kommunen und Bundesagentur für Arbeit sowie die weitere Verbesserung der Anreize zur Arbeitsaufnahme. Im übrigen wäre man froh, wenn es nicht zu einer Rücknahme der Agenda-Reformen kommt, wie bei der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für Ältere schon geschehen. Andererseits aber geht es diesmal um die Bewältigung von Problemen des Industriestandorts. Dieser wird vom Energiewendeversagen und von Fachkräfteengpässen bedroht. Hinzu kommt, dass – bewusst zugespitzt – die alternde Gesellschaft ihre Potenziale primär in Bürgerprotesten mobilisiert und sich mittlerweile gegen jede Art von Infrastrukturprojekt wendet. In diesen für unseren industriellen Wertschöpfungskern so wichtigen Bereichen leben wir derzeit von den Anstrengungen vergangener Jahre. Eine Agenda 2020 müsste das zum Thema haben.
Zum Gastbeitrag auf focus.de
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