Die Europäische Union tritt im EU-Mercosur-Handelsabkommen wie ein Oberlehrer auf, kritisieren die IW-Welthandelsexperten Samina Sultan und Jürgen Matthes in einem Gastkommentar für das Handelsblatt. Die Europäer sollten auf überzogene Ansprüche verzichten.
Nicht bevormunden!
Die Debatte über das EU-Handelsabkommen mit den Mercosur-Staaten (Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay und Venezuela) hat Schlagseite. Es geht fast nur noch um Klimaschutzfragen. Diese Ziele sind zwar wichtig, doch die Strategie führt so nicht zum Ziel. Denn die Europäische Union (EU) tritt wie ein Oberlehrer auf. Es ist schon von einer Art Neo-Kolonialismus die Rede.
Das kommt bei den südamerikanischen Handelspartnern äußerst schlecht an. Sie verweigern die Zustimmung zu dem von der EU ins Spiel gebrachten Zusatzprotokoll für nachhaltige Entwicklung, weil sie ihre Souveränität gefährdet sehen. Mit dieser Zusatzvereinbarung zum eigentlich schon 2019 ausverhandelten Abkommen will die EU-Nachhaltigkeitsstandards noch verbindlicher festschreiben und Verstöße offenbar auch sanktionierbar machen.
Die Mercosur-Staaten haben darauf kürzlich in einem Gegenvorschlag ebenfalls eine Maximalforderung aufgestellt, die für die EU unannehmbar erscheint. Sie fordern, bei neuen EU-Regulierungen, die ihren EU-Marktzugang beschränken, selbst Gegenmaßnahmen ergreifen zu dürfen. Das könnte zum Beispiel bei den CO? -Grenzausgleichszöllen der EU in der europäischen Klimaschutzpolitik relevant werden.
Die Eskalation bei den gegenseitigen Zusatzforderungen macht deutlich: Beharrt die EU auf ihren Maximalforderungen, wird das Abkommen nicht zustande kommen. Das wäre ein fatales handelspolitisches Versagen der EU. Wenn die EU kompromisslos bleibt und das Abkommen scheitert, drohen zahlreiche Konflikte zwischen dem Ziel verbindlicher Klimaschutzstandards und anderen wichtigen Zielen: Ohne das Abkommen wird China seinen Einfluss in Südamerika weiter ausbauen - und die geostrategische Präsenz der EU wird weiter schwinden.
Wir brauchen Lateinamerika auch, um unsere einseitigen kritischen Importabhängigkeiten von China bei vielen Rohstoffen zu mindern. Ohne Abkommen wird es ungleich schwerer, die neue geopolitische Strategie des Deriskings umzusetzen. Bei einem Scheitern des Abkommens greifen die darin bereits enthaltenen Zusagen der Mercosur-Staaten nicht, ihre im Paris-Abkommen gesetzten Verpflichtungen einzuhalten und die illegale Regelwald-Abholzung zu bekämpfen.
Es gibt noch einen weiteren, bislang kaum erwähnten Zielkonflikt: So hätte die europäische Industrie große Potenziale, mit Exporten die Klimaschutzpolitik des Mercosur zu unterstützen. Doch ohne Abkommen wird die chinesische Konkurrenz den dortigen Markt für Green-Tech-Produkte erobern. Zollvergünstigungen für EU-Produkte könnten dies sicherlich nicht ganz verhindern. Aber sie würden die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Firmen gegenüber der subventionierten chinesischen Konkurrenz maßgeblich verbessern.
Die Aussicht, dass auch die europäische Wirtschaft die Energiewende erfolgreich meistert, würde davon genauso profitieren wie das generell unter Druck geratene deutsche Exportmodell.
Die falschen Narrative leiten die hiesige Diskussion über das EU-Mercosur-Abkommen und andere Freihandelsabkommen. Es geht fast nur noch darum, diese Abkommen als Hebel zu nutzen, um unsere Werte und Standards weltweit zu verbreiten. Doch das funktioniert nicht mehr, da die großen Schwellenländer in der neuen multipolaren Welt zunehmend selbstbewusster auftreten. Sie haben mit China eine Alternative. Das lässt unsere Attraktivität und Verhandlungsmacht deutlich schrumpfen.
Auch diejenigen, die auf der Sanktionierbarkeit von Nachhaltigkeitsstandards in Handelsabkommen beharren, sollten einsehen: Die neue Weltordnung zwingt uns, unseren Machtverlust endlich anzuerkennen und den genannten knallharten Zielkonflikten zwischen Geopolitik und Nachhaltigkeitsstandards ins Auge zu schauen. Daher müssen wir unsere hehren Ansprüche zurückschrauben und mehr Kompromissbereitschaft zeigen. Es geht nicht um ein Zurück zu einer neoliberalen Handelspolitik. Es geht um sachliche real- und geopolitische Argumente.
Wir brauchen Freihandelsabkommen mit dem Mercosur und mit anderen Schwellenländern, um in der neuen Weltordnung unsere geostrategische Präsenz zu sichern. Wir brauchen diese Abkommen, um unsere Green-Tech-Industrie zu unterstützen und die Energiewende erfolgreich zu machen. Und wir brauchen sie, um die Nachhaltigkeitsstandards in den Schwellenländern zumindest etwas zu verbessern.
Die EU sollte deswegen dem Mercosur bei der Zusatzvereinbarung entgegenkommen und auf Sanktionen klar verzichten.
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