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Hagen Lesch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Gastbeitrag 12. April 2023

Mindestlohnanpassung: Verlorenes Vertrauen wiederherstellen

Den Mindestlohn auf 12 Euro zu erhöhen, war eines der zentralen Wahlkampfversprechen der SPD. Derlei Vorhaben sind immer mit Nebenwirkungen verbunden – in diesem Falle nicht allein ökonomische, sondern es sind auch systemische Fragen berührt, schreibt IW-Tarifpolitikexperte Hagen Lesch in einem Gastbeitrag für die FAZ.

Denn mit der Erhöhung per Gesetz zum 1. Oktober 2022 hat die Bundesregierung tief in die Tarifautonomie eingegriffen. Verloren gegangen ist damit das Vertrauen in den Anpassungsmechanismus.

Während sich die Mindestlohnkommission in ihren vorherigen drei Beschlüssen weitgehend an die Regel hielt, den Mindestlohn nachlaufend an die allgemeine Tariflohnentwicklung anzupassen, war die politische Entscheidung vom letzten Jahr letztlich willkürlich. Die 12 Euro bedeuten außerplanmäßig ein Plus von knapp 15 Prozent auf einen Schlag. Damit ist einem Überbietungswettbewerb der Parteien zumindest eines Lagers Tür und Tor geöffnet - 2021 wird nicht der letzte Bundestagswahlkampf gewesen sein, in dem diese Platte aufgelegt wurde.

Die Tarifvertragsparteien können sich nunmehr nicht mehr darauf verlassen, dass sich weitere Anpassungen nachlaufend an der Tariflohnentwicklung orientieren. Das erschwert Tarifverhandlungen, weil die Tarifparteien in Branchen wie der Systemgastronomie, dem Bäcker- oder Friseurhandwerk, der Landwirtschaft oder der Floristik, wo die Lohnentwicklung vom Mindestlohn getrieben wird, vor längeren Laufzeiten bei den Tarifverträgen zurückschrecken werden. Zu groß ist das Risiko, dass erneut Tariflöhne vom Mindestlohn überholt und verdrängt werden. Damit allerdings fällt die Laufzeit als wichtige Stellschraube bei der Kompromissfindung in Tarifverhandlungen weg.

Ein weiteres Problem entsteht aus der Begründung, dass der Mindestlohn eine Art "Living-Wage" sein soll. Das soll es Arbeitnehmern ermöglichen, über das bloße Existenzminimum hinaus am sozialen und kulturellen Leben teilzuhaben und für unvorhergesehene Ereignisse vorzusorgen. In der aktuellen Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union, die ebenfalls einen Mindestlohn als "Living-Wage" propagiert, werden dazu Referenzwerte von 60 Prozent des Bruttomedianlohns und 50 Prozent des durchschnittlichen Bruttostundenlohns genannt. Auch wenn diese Werte lediglich eine Empfehlung und keine zwingende Vorschrift darstellen und in das nationale Mindestlohngesetz keinen Eingang gefunden haben: Sie stellen einen politisch gesetzten Orientierungsmaßstab dar, den die Mindestlohnkommission kaum ignorieren kann.

Die Kommission wiederum steht jetzt vor der Herausforderung, erneute politische Eingriffe abzuwehren und das Vertrauen in den institutionellen Prozess der Mindestlohnanpassung wiederherzustellen. Das wird dadurch erschwert, dass der jetzt gültige Mindestlohn im Oktober 2022 etwa 55 Prozent des Medianlohns entsprach, aber bis zum Zeitpunkt der nächsten Mindestlohnanpassung im Januar 2024 auf knapp 53 Prozent sinken dürfte. Hinzu kommt, dass die hohe Inflation einen Teil der realen Wirkung der jüngsten Erhöhung aufgezehrt hat und auch weiter aufzehren wird. Der Sozialverband Deutschland hat bereits zum Inflationsausgleich 14,13 Euro gefordert. Klar ist: Wenn die Kommission im kommenden Juni zu entscheiden hat, wird der politische Druck hoch sein.

Um nicht Spielball der Politik zu bleiben, muss die Mindestlohnkommission zu ihren ursprünglichen Verfahren zurückkehren. Sich nachlaufend an der Tariflohnentwicklung zu orientieren, schafft Planungssicherheit für die Tarifpartner und stiftet Vertrauen. Dabei sollte sie aber zumindest vorübergehend ihre Praxis aufgeben, den Tarifindex ohne Sonderzahlungen als Orientierungsmaßstab heranziehen. Sonderzahlungen haben im Zuge der Corona-Pandemie und mit den steuerfreien Inflationsausgleichsprämien erheblich an Bedeutung gewonnen. Dadurch haben sich die beiden Indizes in den letzten drei Jahren recht unterschiedlich entwickelt: Während der Tarifindex mit Sonderzahlungen um 10 Prozent zulegte, stieg der Tarifindex ohne Sonderzahlungen um lediglich 5,1 Prozent. Da die Inflationsausgleichsprämien noch bis Ende 2024 steuer- und sozialabgabenfrei gestellt sind, dürfte das noch eine Weile so weitergehen.

Es macht daher einen spürbaren Unterschied aus, ob bei der Mindestlohnanpassung eine nachlaufende Orientierung gewählt wird, der ein Tariflohnindex mit oder ohne Sonderzahlungen zugrunde liegt. Die Inflationsausgleichsprämie ist von der Bundesregierung eigens dazu angeboten worden, um Reallohnverluste auszugleichen, ohne die Lohnkosten der Unternehmen dauerhaft zu erhöhen. Da viele Mindestlohnempfänger in Branchen arbeiten dürften, in denen die Inflationsausgleichsprämien entweder gar nicht oder nur teilweise gezahlt werden, scheint eine Berücksichtigung der Prämie bei der Mindestlohnanpassung verteilungspolitisch sinnvoll zu sein. Zudem wird dadurch verhindert, dass der Mindestlohn zu weit von der 60-Prozent-Schwelle des Medianlohns – in den solche Sonderzahlungen ja auch einfließen – abweicht. Das wiederum würde einer erneuten politischen Intervention vorbeugen.

Die Mindestlohnkommission steht vor einer schwierigen Bewährungsprobe. Trotz unterschiedlicher Auffassungen von Gewerkschafts- und Arbeitgebervertretern sollte sich das Gremium seiner Bedeutung bewusst sein und an einem Strang ziehen. Getragen werden sollte es von dem gemeinsamen Willen, politische Interventionen abzuwehren und die Tarifautonomie zu stärken.

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