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Wido Geis-Thöne IW-Kurzbericht Nr. 84 11. November 2023 Noch 700.000 Ganztagsplätze müssen geschaffen werden

Orientiert man sich an den aktuellen Betreuungswünsche von Eltern mit Kindern im Grundschulalter, werden rund 2,35 Millionen Ganztagsplätze benötigt, wenn der Rechtsanspruch im Schuljahr 2029/2030 vollständig in Kraft ist. Um diesen Wert zu erreichen, müssen noch 700.000 Plätze neu geschaffen werden.

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Noch 700.000 Ganztagsplätze müssen geschaffen werden
Wido Geis-Thöne IW-Kurzbericht Nr. 84 11. November 2023

Noch 700.000 Ganztagsplätze müssen geschaffen werden

Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Institut der deutschen Wirtschaft (IW)

Orientiert man sich an den aktuellen Betreuungswünsche von Eltern mit Kindern im Grundschulalter, werden rund 2,35 Millionen Ganztagsplätze benötigt, wenn der Rechtsanspruch im Schuljahr 2029/2030 vollständig in Kraft ist. Um diesen Wert zu erreichen, müssen noch 700.000 Plätze neu geschaffen werden.

Obschon die Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder bereits seit langem als wichtiger Faktor für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf gesehen wird, fiel erst im Jahr 2021 die Entscheidung für einen entsprechenden Rechtsanspruch auf Bundesebene. Dieser soll ab dem Schuljahr 2026/2027 beginnend mit der ersten Klassenstufe sukzessive in Kraft treten, sodass er ab dem Schuljahr 2029/2030 volle Gültigkeit hat (Geis-Thöne, 2022). Allerdings zeigt die Erfahrung mit der Betreuung unter Dreijähriger, dass ein Rechtsanspruch keinesfalls sicherstellt, dass auch tatsächlich alle Eltern mit einem Betreuungswunsch einen entsprechenden Platz erhalten. Dabei ist die Lage bei den Grundschulkindern noch schwieriger, das Achte Sozialgesetzbuch, in dem der Rechtsanspruch verankert wird, grundsätzlich nur die Angebote der Kinder- und Jugendhilfe regelt, zu denen zwar die Horte und Tageseltern, nicht jedoch die Ganztagsschulen zählen.

Um den bis zum Schuljahr 2029/2030 bestehenden Ausbaubedarf zu ermitteln, müssen der Betreuungsbedarf der Eltern, der bereits erreichte Ausbaustand und die zu erwartende zukünftige Entwicklung der Zahl der Kinder im Grundschulalter in den Blick genommen werden.

Betreuungsbedarf

Seit einigen Jahr werden im Auftrag des Bundesfamilienministerium die Betreuungswünsche von Eltern mit Kindern im Grundschulalter erhoben (BMFSFJ, versch. Jg.). Der so ermittelte Bedarf an Plätzen in der Ganztags- oder Übermittagsbetreuung lag im Jahr 2022 bundesweit bei 73 Prozent der Kinder. Gegenüber den Vorjahren hat sich dieser Wert nicht verändert, sodass hier keine steigende Tendenz festzustellen ist. Multipliziert man den Anteil von 73 Prozent mit den 2,99 Millionen Schülerinnen und Schüler in der Primarstufe im Schuljahr 2021/2022 (KMK, 2023a), kommt man auf einen Gesamtbedarf von 2,18 Millionen Plätzen.

Allerdings ist die Lage in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich. So wünschten sich im Jahr 2022 in Hamburg mit 99 Prozent mehr oder minder alle Eltern einen Ganztagsplatz für ihre Kinder im Grundschulalter, wohingegen der entsprechende Anteil in Schleswig-Holstein nur bei 57 Prozent und in Bayern bei 59 Prozent lag (BMFSFJ, versch. Jg.). Ursächlich hierfür dürften vor allem die sehr unterschiedlichen Angebotsstrukturen in den Ländern sein. In Hamburg erhalten die Grundschulkinder eine Ganztagsbetreuung im Umfang von 40 Stunden in der Woche mit einer hohen pädagogischen Qualität kostenfrei, wohingegen in anderen Bundesländern für derartige Angebote teilweise substanzielle Elternbeiträge erhoben werden (Geis-Thöne, 2022). Würde hier das Hamburger Modell übernommen, lägen die Betreuungsbedarfe sehr wahrscheinlich wesentlich höher.

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Ausbaustand

Eine treffsichere Erfassung des Ausbaustands der Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder ist schwierig, da es keine gemeinsame Statistik für die Einrichtungen, die Teil der Schulen sind und in den Zuständigkeitsbereich der Kinder und Jugendhilfe fallen, gibt und Doppelzählungen vorkommen. Die Dortmunder Arbeitsstelle Kinder und Jugendhilfestatistik hat einen Ansatz entwickelt, mit dem die ganztagsbetreuten Kinder jeweils nur einmal gezählt werden und kommt auf eine Betreuungsquote von 55 Prozent für das Jahr 2022, wobei sich dieser Wert auf das erste Halbjahr und damit das Schuljahr 2021/2022 bezieht (BMFSFJ, versch. Jg.). Auch dieser Anteil hat sich in den sich letzten Jahren nicht spürbar verändert. Hochgerechnet ergibt sich aus ihm eine Gesamtzahl von 1,66 Millionen Kindern, die im Schuljahr 2021/2022. In der Primarstufe eine Ganztagsbetreuung erhalten haben

Differenziert man nach Ländern, lag die Betreuungsquote im Schuljahr 2021/2022 in Hamburg mit 98 Prozent am höchsten und in Schleswig-Holstein mit 33 Prozent und Bayern mit 36 Prozent am niedrigsten. Zudem zeigt sich ein starkes Ost-West-Gefälle, das darauf zurückgeht, dass in der ehemaligen DDR bereits in der sozialistischen Phase starke Hortsysteme etabliert wurden. Auch gilt in Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Thüringen sowie Hamburg bereits heute ein landesrechtlich geregelter Anspruch auf einen Ganztagsbetreuungsplatz für Kinder im Grundschulalter (Geis-Thöne, 2022).

Dabei erfüllen die Betreuungsangebote in Ostdeutschland und Hamburg die Anforderungen des zukünftigen Rechtsanspruchs in aller Regel auch bereits vollständig. Hingegen ist das in den übrigen Teilen Westdeutschland häufiger nicht der Fall. So müssen Schulen nur an drei Tagen in der Woche ein Betreuungsangebot im Umfang von sieben Zeitstunden machen, um nach der Definition der Kultusministerkonferenz als Ganztagsschulen zu gelten, was den zeitlichen Umfang des zukünftigen Rechtsanspruchs von 40 Stunden in der Woche weit unterschreitet. (Geis-Thöne. 2022) Die tatsächlichen Betreuungslücken dürften hier also noch weit größer sein, als dies ein einfacher Vergleich von Betreuungsbedarfen und Zahlen der betreuten Kinder implizieren.

Bestehende Betreuungslücke

Vergleicht man die Betreuungsbedarfe mit den Zahlen der ganztags betreuten Kinder im Grundschulalter, kommt man für das Schuljahr 2021/2022 auf eine Lücke von 529.000 Plätzen oder 18 Prozentpunkten. Das bedeutet, dass fast für jedes fünfte Kind im Grundschulalter ein Bereuungsbedarf besteht, der aktuell nicht erfüllt werden kann. Am größten sind die Lücken dabei mit 152.000 Plätzen in Nordrhein-Westfalen und mit 104.000 Plätzen in Bayern, was jeweils 23 Prozent der Kinder entspricht. Damit weisen diese beiden nach Schleswig-Holstein mit 24 Prozent auch die größten relativen Lücken auf. Wählt man statt der von den Eltern geäußerten Betreuungsbedarf das niedrigste Betreuungsniveau in einem Bundesland mit bereits bestehendem Rechtsanspruch von 75 Prozent in Sachsen-Anhalt als Richtwert, liegt die Lücke bundesweit sogar bei 648.000 Plätzen.

Entwicklung der Kinderzahlen

Vor dem Hintergrund stark gestiegener Geburtenzahlen in den 2010er-Jahren werden auf absehbare Zeit auch deutlich mehr Kinder in Deutschland eine Grundschule oder andere Schulform in der Primarstufe besuchen. Vorausberechnungen der Kultusministerkonferenz zufolge dürfte der Höchststand im Schuljahr 2025/2026 mit 3,32 Millionen erreicht werden. Im Schuljahr 2029/2030, wenn der Rechtsanspruch erstmals für alle Jahrgänge gilt, dürfte die Zahl mit 3,24 Millionen noch immer um 8 Prozent höher liegen als im Schuljahr 2021/2022 (KMK, 2023b; eigene Berechnung). Allerdings ist in den ostdeutschen Ländern außer Berlin eine grundlegend andere Entwicklung mit einem deutlichen Rückgang der Schülerzahlen in der Primarstufe um 5 Prozent bis zum Schuljahr 2029/2030 zu erwarten.

Ausbaubedarf bis zum Jahr 2029

Geht man von den aktuellen Bedarfsquote aus, werden bis zum Schuljahr 2029/2030 insgesamt 2,35 Millionen Betreuungsplätze für Grundschulkinder benötigt. Das sind 187.000 mehr als im Schuljahr 2021/2022 an sich gebraucht wurden. Allerdings gehen die Bedarfe in Ostdeutschland deutlich zurück, sodass das aktuelle Platzangebot in Sachsen und Thüringen den zu erwartenden zukünftigen Bedarf bereits überschreitet. Lässt man den hier möglichen Rückbau unberücksichtigt, kommt man auf einen Ausbaubedarf von insgesamt 700.000 Plätzen bis zum Schuljahr 2029/2030. Relativ zur aktuellen Zahl der Kinder in Ganztagsbetreuung entspricht dies einer Steigerung um 42 Prozent. Wollte man in allen Bundesländern eine Betreuungsquote von 75 Prozent erreichen, müssten (ohne Berücksichtigung der darüberhinausgehenden Bedarfe in einem Teil der Länder) insgesamt sogar 847.000 zusätzlich Plätze geschaffen werden (BMFSFJ, versch. Jg., KMK, 2023a, b; eigene Berechnungen).

Absolut gesehen ist der Ausbaubedarf bei Zugrundelegung der aktuellen Bedarfsquote mit 191.000 Plätzen in Nordrhein-Westfalen am größten, gefolgt von Bayern mit 140.000 Plätzen. Relativ gesehen ist mit 87 Prozent in Schleswig-Holstein die stärkste Steigerung notwendig, gefolgt von Bayern mit 86 Prozent (BMFSFJ, versch. Jg., KMK, 2023a, b; eigene Berechnungen). Hier sind die Länder in besonderem Maß gefordert, den Ausbau der Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder forciert voranzutreiben. Dabei ist eine gezielte Unterstützung durch den Bund nur sinnvoll, wenn durch sie nicht die Länder, die den Betreuungsausbau aus eigenem Engagement bereits stark vorangetrieben haben, schlechter gestellt werden.

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