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Henrik Förster / Thomas Obst IW-Kurzbericht Nr. 86 1. Dezember 2023 Wachstumskosten der restriktiven Geldpolitik in Deutschland

Mit einem rasanten Anstieg des Leitzinses auf 4,5 Prozent ist die Europäische Zentralbank (EZB) entschieden gegen die historisch hohe Inflation im Euroraum vorgegangen. Zeitgleich hat die restriktive Geldpolitik zu einer deutlichen Dämpfung der Wirtschaft geführt. Die BIP-Wachstumskosten in Deutschland lassen sich in den Jahren 2022 und 2023 zusammen auf 25 Milliarden Euro beziffern.

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Wachstumskosten der restriktiven Geldpolitik in Deutschland
Henrik Förster / Thomas Obst IW-Kurzbericht Nr. 86 1. Dezember 2023

Wachstumskosten der restriktiven Geldpolitik in Deutschland

Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Institut der deutschen Wirtschaft (IW)

Mit einem rasanten Anstieg des Leitzinses auf 4,5 Prozent ist die Europäische Zentralbank (EZB) entschieden gegen die historisch hohe Inflation im Euroraum vorgegangen. Zeitgleich hat die restriktive Geldpolitik zu einer deutlichen Dämpfung der Wirtschaft geführt. Die BIP-Wachstumskosten in Deutschland lassen sich in den Jahren 2022 und 2023 zusammen auf 25 Milliarden Euro beziffern.

Infolge der Covid-19-Pandemie mit vielfältigen Angebotsengpässen stieg die Inflation im Euroraum seit Mitte 2021 an. Dies wurde im Frühjahr 2022 durch die von dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine ausgelöste Energiekrise verstärkt. Somit erreichte die jährliche Änderungsrate des harmonisierten Verbraucherpreisindexes (HVPI) im Oktober 2022 in Deutschland 11,6 Prozent. Im gleichen Monat wurde im Euroraum mit 10,6 Prozent der höchste Wert seit 1999 erreicht.

Dies veranlasste die EZB von ihrer Niedrigzinspolitik der letzten zehn Jahre hin zu einer restriktiveren Geldpolitik umzukehren. Sie erhöhte den Leitzins in zehn Schritten bis auf 4,5 Prozent, bevor sie jüngst im Oktober eine Zinspause eingelegt hat. Damit soll die Inflation mittelfristig auf die Zielinflationsrate von 2 Prozent reduziert und das primäre Mandat der Preisstabilität wieder eingehalten werden. Die Maßnahmen der EZB scheinen zu wirken. Die jährliche Änderungsrate des HVPI ist im Oktober 2023 im Euroraum auf 2,9 Prozent und in Deutschland auf 3 Prozent gesunken. Allerdings bleibt die binnenwirtschaftlich getriebene Kerninflationsrate (ohne Energie und Nahrungsmittel) in Deutschland wegen zunehmend hoher Lohnabschlüsse hoch.

Wachstumskosten restriktiver Geldpolitik

Eine restriktive Geldpolitik geht jedoch mit wachstumsdämpfenden Auswirkungen einher. Ramey (2016) fasst die zentralen empirischen Studien zusammen und zeigt für die USA, dass die realen BIP-Verluste einer Leitzinserhöhung um 100 Basispunkte zwischen 0,7 Prozent und 4,3 Prozent nach 24 Monaten liegen. Für den Euroraum zeigt Georgiadis (2015), dass eine Leitzinserhöhung um 100 Basispunkte im Durchschnitt zu realen BIP-Verlusten von 0,3 Prozent nach etwa 18 Monaten führt. Dies geht allerdings mit unterschiedlich starken Effekten je nach Euroland einher. Deutschland ist aufgrund seines kapitalintensiven Verarbeitenden Gewerbes besonders betroffen.

Die Wirkung von geldpolitischen Maßnahmen kann durch verschiedene Transmissionskanäle erfolgen. Es wird zwischen vier Kanälen unterschieden: (1) Zinskanal, (2) Wechselkurskanal, (3) Vermögenskanal und (4) Kreditkanal (Mishkin, 1995).

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Beim ersten Kanal führt eine Erhöhung des Leitzinses kurzfristig zu einer Erhöhung der Kosten, zu denen sich Banken bei der Zentralbank Geld leihen können. Damit ist der Interbankenmarkt betroffen. Im Euroraum liegt der Geldmarktzins mittlerweile bei 4 Prozent. Die höheren Finanzierungskosten werden auch an die Haushalte und Unternehmen weitergegeben. Seit Januar 2021 haben sich etwa die Bauzinsen in Deutschland vervierfacht. Diese hängen wiederum stark an den Renditen für zehnjährige deutsche Bundesanleihen, die zuletzt auf 2,8 Prozent gestiegen sind. Der zweite Kanal postuliert einen Aufwertungseffekt steigender Zinsen auf die heimische Währung. Dies führt zu einer Verteuerung inländischer Produkte und dämpft die Nachfrage. Für den Handel innerhalb des Euroraums ist dies aufgrund derselben Währung für Deutschland allerdings von geringerer Bedeutung. Der dritte Kanal stellt den Effekt einer Leitzinsveränderung auf die Vermögenspreise dar. Eine Leitzinserhöhung führt demnach zu Abwärtskorrekturen bei Aktien- und Immobilienpreisen, da Anleihen an Attraktivität gegenüber Aktien gewinnen und der Anstieg der Kapitalkosten die Nachfrage nach Immobilien reduziert. Dieser Vermögenseffekt dämpft das Wirtschaftswachstum. Der vierte Kanal beschreibt den Effekt der gestiegenen Zinsen auf die Kreditvergabe. Diese erhöhen das Zahlungsausfallrisiko. Infolgedessen erhalten Kreditnehmer schlechtere Kreditkonditionen von den Banken. Insgesamt reduzieren sich durch den monetären Schock sowohl die Investitionen von Unternehmen als auch der Konsum von Haushalten. Dieser gesamtwirtschaftliche Nachfragerückgang führt nicht nur zu einem sinkenden Preisniveau, sondern auch zu einer Dämpfung der Realwirtschaft. Die damit einhergehenden Wachstumskosten des Zinsanstiegs werden für Deutschland simuliert.

Simulation der Wachstumskosten

Um die makroökonomischen Auswirkungen einer restriktiven Geldpolitik auf die deutsche Wirtschaft zu untersuchen, wird ein Szenario mithilfe des Global Economic Model von Oxford Economics erstellt. Das Modell ist in der kurzen Frist keynesianisch, sodass nachfragebedingte Veränderungen die gesamtwirtschaftliche Entwicklung beeinflussen. Hier spielen beispielsweise die Vermögenseffekte für den privaten Konsum eine Rolle. In der langfristigen Betrachtung ist das Modell monetaristisch. Die wirtschaftliche Entwicklung wird maßgeblich durch Angebotsfaktoren beeinflusst. Hier wirkt sich auch die Verschlechterung der Kreditbedingungen auf die private Investitionstätigkeit aus.

In dieser Analyse wird ein kontrafaktisches Szenario unter sonst gleichen Bedingungen im Zeitraum Sommer 2022 bis Ende 2023 abgebildet. Dafür wird ein Basisszenario (Stand: Juli 2022 vor der ersten Leitzinserhöhung der EZB) mit dem IW-erstellten Szenario, das folgende Änderungen integriert, verglichen:

  • Leitzinserhöhung EZB auf 4,5 Prozent; Anhebung Rendite zehnjährige Bundesanleihen auf 2,9 Prozent,
  • Erhöhung Geldmarktzinsen im Interbankenmarkt (Euribor, drei Monate) auf 4 Prozent,
  • Verschlechterung der Kreditbedingungen.

Somit können die Auswirkungen der gestiegenen Finanzierungskosten auf die Volkswirtschaft anhand tatsächlicher Daten gut repliziert werden. Zur restriktiven Geldpolitik gehört auch die eingeleitete Bilanzsummenreduzierung bei der EZB. Diese wird indirekt über eine Verschlechterung der Kreditbedingungen mit aufgenommen. Im Gegensatz zur globalen Finanzmarktkrise 2008 bleibt das Kreditangebot der Banken an den Privatsektor stabil.

Die Abbildung zeigt die Ergebnisse der Modellsimulation verglichen mit dem Basisszenario ohne die restriktive Geldpolitik der EZB seit Juli 2022. Im zweiten Jahr sind die Effekte durchweg höher, da sich die exogenen Schocks erst mit Zeitverzögerung auswirken. Für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung hat die restriktive Geldpolitik der EZB ceteris paribus bewirkt, dass das BIP-Niveau in Deutschland im Jahr 2022 um 0,1 Prozent und im Jahr 2023 um 0,7 Prozent geringer ausfällt als im Basisszenario. In absoluten Werten liegen die Wachstumskosten kumulativ über beide Jahre bei rund 25 Milliarden Euro. Die Simulation zeigt außerdem, dass die private Investitionstätigkeit in Deutschland sinkt. Im Vergleich zum Basisszenario war diese 2022 rund 0,2 Prozent und im Jahr 2023 1,6 Prozent geringer. Bei den realen Bauinvestitionen kann diese Simulation die reale Entwicklung nur teilweise replizieren. Während sie in der Simulation für 2022 nahezu unverändert bleiben, sind sie tatsächlich um 1,7 Prozent gesunken. Für 2023 geht das Modell von einer negativen Abweichung um 0,7 Prozent gegenüber dem Basisszenario aus. Die Differenz kann darauf hindeuten, dass andere Faktoren wie hohe Baupreise, aber auch überbordende regulatorische Anfordernisse ans Bauen den starken Einbruch erklären. Der private Konsum schwächt sich aufgrund fallender Vermögenspreise (der DAX liegt 2023 im Jahresdurchschnitt bei knapp 14.000 Punkten statt bei über 15.000 wie im Basisszenario) und höherer Zinsen auf Konsumentenkredite ebenfalls deutlich ab. In Deutschland fällt dieser 2023 gemäß IW-Schätzung um rund 0,6 Prozent niedriger aus als im Basisszenario. Kumulativ ergibt sich für beide Jahre ein Ausfall von rund 11 Milliarden Euro. Vor allem die Industrieproduktion leidet unter den starken Zinsanstiegen. Sie liegt 2023 mit über 1 Prozent unter dem Basisszenario. Dies ist bedingt durch die gedämpfte Exporttätigkeit (Aufwertung der heimischen Währung) und den dargestellten Rückgang der privaten Investitionstätigkeit.

Die IW-Ergebnisse verdeutlichen die Wachstumskosten des historischen Anstiegs des Leitzinses im Euroraum der vergangenen eineinhalb Jahre. Sie unterschätzen den Effekt möglicherweise, da die Auswirkungen einer restriktiven Geldpolitik bis zu zwei Jahre brauchen, um sich vollständig zu entfalten. Sollten die Zinsen bis zur Jahreshälfte 2024 unverändert bleiben, würden sich die negativen Effekte über Multiplikatoreffekte in der IW-Simulation fortsetzen. Der negative BIP-Effekt in Deutschland könnte bis zu 14 Milliarden Euro höher ausfallen. In dem IW-Szenario würden die adversen makroökonomischen Auswirkungen erst im Jahr 2025 wieder abnehmen. Allerdings könnte die EZB das Zinsniveau früher als erwartet senken. Denn der Nahostkrieg sorgt für zusätzliche geopolitische Unsicherheit und dynamisch steigende Bondrenditen lösen Sorgen um die Finanzstabilität aus. Zudem befindet sich Deutschland und der Euroraum in einer Stagnation.

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