Im Jahr 2021 gingen 26,3 Prozent aller Neurentner:innen vorzeitig abschlagsfrei in Rente. Diese Versicherten haben mindestens 45 Versicherungsjahre erreicht und können somit vor der Regelaltersgrenze abschlagsfrei in den Ruhestand eintreten. Eine Untersuchung anhand der Daten des Sozio-Oekonomischen Panels und der Deutschen Rentenversicherung zeigt, dass vor allem Personen mit einem mittleren Haushaltseinkommen die Möglichkeit wahrnehmen, vor der Regelaltersgrenze abschlagsfrei in Rente zu gehen.
„Rente mit 63”: Wer geht abschlagsfrei vorzeitig in den Ruhestand?
Institut der deutschen Wirtschaft (IW)
Im Jahr 2021 gingen 26,3 Prozent aller Neurentner:innen vorzeitig abschlagsfrei in Rente. Diese Versicherten haben mindestens 45 Versicherungsjahre erreicht und können somit vor der Regelaltersgrenze abschlagsfrei in den Ruhestand eintreten. Eine Untersuchung anhand der Daten des Sozio-Oekonomischen Panels und der Deutschen Rentenversicherung zeigt, dass vor allem Personen mit einem mittleren Haushaltseinkommen die Möglichkeit wahrnehmen, vor der Regelaltersgrenze abschlagsfrei in Rente zu gehen.
Grundsätzlich können sozialversicherungspflichtig Beschäftigte bis zu vier Jahre vor Erreichen der Regelaltersgrenze vorzeitig in den Ruhestand wechseln und ihre gesetzliche Rente beziehen. Für jedes Jahr vorzeitigen Rentenbezug müssen sie aber einen Abschlag von 3,6 Prozent auf ihre bis dahin erreichte Anwartschaft hinnehmen. Mit dem Abschlag sollen die zusätzlichen Aufwendungen, die der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) aufgrund der längeren Bezugsdauer entstehen, ausgeglichen werden. Seit Juli 2014 gilt dies aber nicht für besonders langjährig Versicherte mit mindestens 45 Versicherungsjahren. Seitdem können sie ihre Rente bis zu zwei Jahre vor Erreichen der Regelaltersgrenze abschlagsfrei beziehen.
In der öffentlichen Debatte steht das Privileg einer abschlagsfreien „Rente mit 63“ seit seiner Einführung in der Kritik (vgl. Nagl/Ragnitz/Vandrei, 2014; Schnabel 2015): Mit dem Verzicht auf Abschläge entstünde ein Anreiz, vorzeitig aus dem Erwerbsleben auszuscheiden. Dies verschärfe nicht nur den zunehmenden Engpass an Fachkräften, sondern auch der Rentenversicherung gingen damit Beitragszahlende verloren. Gleichzeitig belaste der zusätzliche Aufwand für die vorgezogenen Rentenzahlungen die Beitragszahlenden, weil dieser nicht den Rentenbeziehenden über Abschläge in Rechnung gestellt wird. Aus sozialpolitischer Perspektive wird dem entgegengehalten, dass besonders langjährig Versicherten eine Reduktion ihrer gesetzlichen Alterseinkommen nicht zumutbar sei. Bislang liegen jedoch kaum empirische Befunde dazu vor, welche Einkommensgruppen von einem vorzeitigen abschlagsfreien Rentenbezug profitieren. Seit die sogenannte abschlagsfreie „Rente mit 63“ im Juli 2014 eingeführt wurde, erfreut sie sich großer Beliebtheit. 2021 erreichte die Zahl der Neurentner:innen, welche diesen Zugang in die Rente wählte, mit 268.957 einen Höchststand. Unter allen Rentner:innen, die in diesem Jahr erstmals eine Alters- oder Erwerbsminderungsrente bezogen haben, lag der Anteil der Personen mit mindestens 45 Versicherungsjahren bei 26 Prozent. Dabei lag der durchschnittliche Rentenzahlbetrag für diese Rentner:innen bei 1.419 Euro pro Monat. Rentner:innen, welche eine andere Art von Altersrente bezogen, erhielten 993 Euro (Deutsche Rentenversicherung, 2022, 191). Besonders langjährig Versicherte erreichen folglich deutlich höhere Rentenzahlbeträge als andere Gruppen, die eine Regelaltersrente beziehen.
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Die Möglichkeit, Daten des Rentenbestands der Deutschen Rentenversicherung mit Daten des Sozio-Oekonomischen Panels (SOEP) zu verbinden (FDZ-RV 2020), ermöglicht es, zu untersuchen, welche Einkommensgruppen sich vermehrt für die abschlagsfreie „Rente mit 63“ qualifizieren und diese in Anspruch nehmen. Dies bietet gegenüber einer Auswertung allein auf Basis der Daten der Deutschen Rentenversicherung den Mehrwert, dass über die Rentenzahlbeträge hinaus Haushaltseinkommen und weitere soziodemografische Merkmale betrachtet werden können, welche durch die Deutsche Rentenversicherung nicht erfasst werden (Lüthen et al., 2021). Vor dem Hintergrund, dass gesetzliche Renten nur einen Teil des Einkommens im Alter ausmachen, bietet diese Betrachtung eine neue Perspektive auf die Bezieher:innen einer abschlagsfreien Rente vor der Regelaltersgrenze.
Für die Analyse werden gut 1.000 Personen beobachtet, die zwischen 2014 und 2020 in Rente gegangen sind. Die Abbildung zeigt deutlich, dass Menschen mit einem mittleren bedarfsgewichteten Haushaltsnettoeinkommen häufiger die abschlagsfreie „Rente mit 63“ in Anspruch nehmen als andere Einkommensgruppen. Das Einkommenskonzept umfasst hier alle Einkommen nach Steuern und eventuellen Sozialversicherungsbeiträgen, inklusive des Nettomietvorteils, der Eigentümer:innen durch die Nutzung der eigenen Immobilie entsteht. Die Einkommen werden unter Berücksichtigung der modifizierten OECD-Äquivalenzskala bedarfsgewichtet. Generell ist ein umgekehrter u-förmiger Zusammenhang zwischen der Inanspruchnahme der abschlagsfreien „Rente mit 63“ und der bedarfsgewichteten Nettoeinkommensverteilung der Haushalte zu erkennen.
- Während nur 5 Prozent der Personen im untersten Einkommensfünftel vorzeitig abschlagsfrei in Rente gehen, sind es im mittleren Einkommensfünftel 36 Prozent.
- Im vierten und fünften Einkommensfünftel nimmt der Anteil der besonders langjährig Versicherten wieder ab und erreicht 31 Prozent für das vierte Einkommensfünftel und 22 Prozent für das höchste Einkommensfünftel.
Personen im ersten und zweiten Einkommensfünftel haben im Schnitt mit 33 respektive 32 Jahren niedrigere Versicherungszeiten erreicht als Rentner:innen in den mittleren und hohen Einkommensfünfteln. Eine Hypo-these für diesen Befund könnte lauten, dass die niedrigere Inanspruchnahme der abschlagsfreien „Rente mit 63“ in den unteren Einkommensgruppen auch dadurch bedingt ist, dass Personen in diesen Gruppen die benötigten 45 Versicherungsjahre weniger häufig erreichen als in den anderen Einkommensgruppen. Der große Niveauunterschied in der Inanspruchnahme der abschlagsfreien „Rente mit 63“ zwischen dem ersten und dem zweiten Einkommensfünftel bei vergleichbarer durchschnittlicher Versicherungszeit lässt vermuten, dass Personen am unteren Rand der Einkommensverteilung aus ökonomischen Gründen auf einen vorzeitigen Rentenbezug verzichten, selbst wenn dies ohne Inkaufnahme von Abschlägen möglich wäre.
Im dritten, vierten und fünften Einkommensfünftel liegen die durchschnittlichen Versicherungszeiten bei 40 und 38 Jahren und somit deutlich höher als im ersten und zweiten Einkommensfünftel. Im obersten Einkommensfünftel nehmen Personen die Möglichkeit, abschlagsfrei vorzeitig in den Ruhestand zu gehen, trotz vergleichbarer Anspruchserfüllung seltener wahr.
Über den Zusammenhang zwischen Einkommenshöhe und der Inanspruchnahme der abschlagsfreien Rente für besonders langjährig Versicherte hinaus kann mithilfe einer logistischen Regression untersucht werden, welche Merkmale einen vorzeitigen abschlagsfreien Renteneintritt bestimmen. Dafür werden das Geschlecht, die Region, die Wohnform, der Migrationshintergrund, der Familienstand, der Bildungshintergrund, die Einkommensverteilung und der subjektiv eingeschätzte Gesundheitszustand simultan betrachtet. Die Analyse zeigt ein erwartbares Bild. Besonders langjährig Versicherte sind mit höherer Wahrscheinlichkeit männlich, leben mit höherer Wahrscheinlichkeit in Ostdeutschland und haben mit höherer Wahrscheinlichkeit keinen akademischen Abschluss.
Diese Ergebnisse decken sich mit vorigen Analysen, die zeigen konnten, dass die abschlagsfreie „Rente mit 63“ vor allem von Männern, Fachkräften und Personen mit anerkanntem Berufsabschluss in Anspruch genommen wird (IHK/ifo Institut, 2018). Wie bereits deskriptiv gezeigt senkt die Zugehörigkeit zum untersten Haushaltseinkommensfünftel die Wahrscheinlichkeit, vorzeitig abschlagsfrei in Rente zu gehen. Überraschend ist hingegen der Befund, dass Personen, die ihren Gesund-heitszustand als weniger gut oder schlecht einschätzen, im Vergleich zu Personen mit einer sehr positiven Einschätzung ihrer Gesundheit mit geringerer Wahrscheinlichkeit vorzeitig abschlagsfrei in Rente gehen. Dieser Befund, der auf dem subjektiv eingeschätzten Gesundheitszustand nach Renteneinritt beruht, bedarf weiterführender Forschung ehe einfache Rückschlüsse auf mögliche Zusammenhänge zwischen Gesundheitsempfinden und Vorruhestandsentscheidung getroffen werden können.
Der Befund, dass die abschlagsfreie „Rente mit 63“ vor allem von Rentner:innen mit mittleren Einkommen genutzt wird, erschwert eine sozialpolitische Begründung der Möglichkeit, abschlagsfrei nach 45 Versicherungsjahren in Rente zu gehen. Personen, die diese Möglichkeit wahrnehmen, gehen im Schnitt zwei Jahre vor der Regelaltersgrenze in Rente und erreichen überdurchschnittlich hohe Renten.
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