Angesichts der massiv ansteigenden Energiepreise herrscht in der Bevölkerung eine hohe Erwartungshaltung an die Politik. Zwar fordern die Deutschen mehrheitlich zielgerichtete Maßnahmen nur für Haushalte mit niedrigen Einkommen, die höchsten Transfers für die eigenen Haushalte wünschen sich hingegen die mittleren Einkommensschichten. Insgesamt würden die Wünsche aller Bürger an den Staat knapp 26 Milliarden Euro kosten.
Energiepreise: Teure Forderungen aus der Mitte der Bevölkerung
Institut der deutschen Wirtschaft (IW)
Angesichts der massiv ansteigenden Energiepreise herrscht in der Bevölkerung eine hohe Erwartungshaltung an die Politik. Zwar fordern die Deutschen mehrheitlich zielgerichtete Maßnahmen nur für Haushalte mit niedrigen Einkommen, die höchsten Transfers für die eigenen Haushalte wünschen sich hingegen die mittleren Einkommensschichten. Insgesamt würden die Wünsche aller Bürger an den Staat knapp 26 Milliarden Euro kosten.
Nachdem die deutsche Bevölkerung wirtschaftlich relativ unbeschadet durch die verschiedenen Krisen der vergangenen Jahre manövriert wurde, sind angesichts der steigenden Energiepreise heute Wohlstandsverluste auch in der Mitte der Gesellschaft unausweichlich. Die Bundesregierung, die nach dem pandemiebedingten Ausnahmezustand wieder zur haushaltspolitischen Normalität zurückgehen wollte, sieht sich angesichts der aktuellen Verwerfungen auf den Energiemärkten umfassenden Verteilungskonflikten gegenüber.
Mit dem Ziel, den Anspruchshaltungen gegenüber staatlichen Entlastungen empirisch nachzuspüren, haben das SINUS-Institut und das Institut der deutschen Wirtschaft eine repräsentative Online-Befragung durchgeführt. Die Auswertungen zeichnen nach, wie schwierig es werden dürfte, den Ansprüchen hinsichtlich staatlicher Unterstützung gerecht zu werden. Auch im Befragungszeitraum nach der Ankündigung des dritten Entlastungspakets geben lediglich zwölf Prozent der Befragten an, der Staat habe bereits ausreichende Maßnahmen umgesetzt und solle keine weiteren Entlastungen anbieten, um Bevölkerung und Wirtschaft zu stützen. Wenngleich mit den angekündigten Maßnahmen abermals unterschiedlichste Einkommensschichten und Milieus bedient wurden, scheint die Verkündung des 65 Millionen teuren, dritten Entlastungspakets den Erwartungen der Bevölkerung noch nicht zu genügen.
<div id="everviz-wbl9x6zHy" class="everviz-wbl9x6zHy"><script src="https://app.everviz.com/inject/wbl9x6zHy/" defer="defer"></script></div>
Wer im Fokus der Staatshilfen stehen sollte, ist in der Bevölkerung noch immer umstritten: Insgesamt sprechen sich in der SINUS-IW-Befragung 58 Prozent der Menschen für exklusiv auf Niedrigeinkommenshaushalte ausgerichtete Entlastungen aus. Unter denjenigen, deren Haushaltseinkommen unter 1.500 Euro liegen oder sich selbst der Unterschicht zurechnen, fällt die Zustimmung mit 75 Prozent deutlich stärker aus. In den oberen Einkommensschichten stimmt etwa die Hälfte der Befragten der Aussage zu, dass nur Menschen mit niedrigem Einkommen entlastet werden sollten. Tatsächlich sind in Deutschland aktuell praktisch alle Haushalte von den steigenden Energiepreisen betroffen. Während die höchste relative Betroffenheit (Anteil am Einkommen) bei Personen mit niedrigen Einkommen auftritt, tragen Menschen mit höheren Einkommen aufgrund höherer Verbräuche (Held, 2019) in absoluten Euro-Beträgen die höheren Kosten. Entsprechend nehmen 83 Prozent der Haushalte mit bedarfsgewichteten Einkommen unterhalb von 1.500 Euro die höheren Kosten als starke oder sehr starke Belastung war. Zum Vergleich: Befragte aus Haushalten mit Einkommen oberhalb von 3.000 Euro geben zu 46 Prozent an, dass sie die gestiegenen Energiepreise mindestens stark belasten.
So wie Strom- und Gaskosten selbst für informierte Kreise derzeit kaum prognostizierbar sind, so fächern sich auch die Erwartungen der monatlichen Zusatzkosten breit auf. Während das Viertel der Befragten mit der niedrigsten Kostenerwartung für ihren Haushalt weitere Kosten von bis zu 80 Euro je Monat erwartet, geht das pessimistischste Viertel von Mehrkosten von über 300 Euro monatlich aus. Die durchschnittliche Erwartung zusätzlicher Kosten liegt bei rund 220 Euro im Monat und damit für das kommende Jahr bei über 2.500 Euro. Über die Einkommensschichten hinweg steigen die erwarteten Kosten nicht durchgängig mit dem angegebenen Haushaltseinkommen (dunkelblaue Säulen in der Grafik). Lediglich Befragte mit einem bedarfsgewichteten Haushaltseinkommen von über 3.000 Euro geben mit 240 Euro eine deutlich höhere monatliche Kostenerwartung an, als die im Rest der Bevölkerung (unter 3.000 Euro) angenommenen 215 Euro.
Weiterhin wurde untersucht, wie hoch ein einmaliger staatlicher Zuschuss für Energiekosten für den eigenen Haushalt ausfallen sollte (hellblaue Säulen in Grafik). Würde den Wünschen der Bevölkerung stattgegeben, müsste der Staat für Transfers in Höhe von durchschnittlich 648 Euro für alle 40,7 Millionen Haushalte in Deutschland knapp 26 Milliarden Euro in die Hand nehmen. Dabei fordern Befragte mit einem bedarfsgewichteten Haushaltsnettoeinkommen von unter 1.250 Euro im Durchschnitt eine Transferzahlung von rund 550 Euro. Deutlich höher fallen die gewünschten Zahlungen demgegenüber in Haushalten mit einem bedarfsgewichteten Einkommen zwischen 1.250 und 3.000 Euro aus: Hier werden Einmalzahlungen von rund 700 Euro gefordert. Erst bei den Haushalten mit noch höheren bedarfsgewichteten Einkommen fallen die Forderungen – trotz noch höherer erwarteter Kosten – niedriger aus. Höhere Kompensationserwartungen bei mittleren Haushaltseinkommen zeigen sich interessanterweise auch unter denjenigen, die angeben, es sollten nur Niedrigeinkommens-Haushalte entlastet werden. Tatsächlich weichen die Ansprüche der Befürworter zielgerichteter Entlastungen kaum ab von Befragten, die für breitere Entlastungen plädieren (Rauten in der Grafik).
Um genauer zu verstehen, was die Bevölkerung mit Blick auf die aktuelle Krisensituation bewegt, wird als weitere Erklärungsperspektive der Ansatz der Sinus-Milieus in die Erhebung integriert (Barth et al., 2018). Sinus-Milieus fassen Menschen mit ähnlichen Werten und einer vergleichbaren sozialen Lage zu insgesamt zehn „Gruppen Gleichgesinnter“ zusammen. Die Milieuperspektive verfeinert die Untersuchung soziodemografischer Merkmale, indem sie Wertorientierungen und Lebensstile ergänzt. Es zeigt sich: Die stärkste Forderung nach Unterstützung für den eigenen Haushalt wird mit knapp 880 Euro durch das Konsum-Hedonistische Milieu (8% der Bevölkerung) formuliert.
Quelle: Sinus-Institut
Zudem nehmen die beiden angrenzenden Mitte-Milieus (Nostalgisch-Bürgerliches Milieu und Adaptiv-Pragmatische Mitte) einen besonders hohen Druck wahr und fühlen sich von der Politik überdurchschnittlich „vergessen“: Das Grundsentiment im Nostalgisch-Bürgerlichen Milieu (11% der Bevölkerung) ist nicht erst seit dieser Krise das Gefühl einer wachsenden Überforderung. Erschütterten frühere Krisen wie die Flüchtlingsbewegungen vor allem die soziokulturellen Gewissheiten dieses Milieus, fühlt man nun auch die eigenen, hart erarbeiteten materiellen Säulen wanken. Grundsätzlich – und verstärkt in Krisenzeiten – erwartet die „alte“ Mitte der Gesellschaft Führung und Fürsorge von der Politik. Das Kanzler-Versprechen von „You’ll Never Walk Alone“ und die Entlastungspolitik könnten diese Bedürfnisse bedienen. Als „Rückgrat der Nation“ gehen Nostalgisch-Bürgerliche davon aus an, dass sie Unterstützung besonders verdienen. Entsprechend ist der Solidaritätsgedanke mit Schlechtergestellten grundsätzlich weniger ausgeprägt. Die geforderte Einmalzahlung für den eigenen Haushalt landet mit knapp 750 Euro auf dem dritten Platz aller Milieus.
Die modernere Adaptiv-Pragmatische Mitte (12% der Bevölkerung) weist eine dezidierte „Staat als Dienstleister“-Mentalität auf. „Was bringt mir das – heute und in der Zukunft?“ konstituiert die zentrale Heuristik im Leben. Von der Politik wird Unterstützung erwartet, das milieutypische Lebensziel zu verwirklichen, also ein angenehmes, störungsfreies Leben in der Mitte der Gesellschaft führen zu können. „You’ll Never Walk Alone“ bedeutet in diesem Milieu, dass der Staat Orientierung und Planungssicherheit für die Zukunft schafft und über Anreize oder Sanktionen aufzeigt, wie es weitergeht. Staatliche Entlastungen sollten möglichst direkt spürbar sein; für komplizierte, tröpfchenweise und langwierige Entscheidungen zeigt man wenig Verständnis. Entsprechend stellt die Adaptiv-Pragmatische Mitte mit einem Transfer von fast 860 Euro an den eigenen Haushalt die zweithöchste Forderung an die Politik.
Nach sozioökonomischen Gesichtspunkten gehört auch das progressive Milieu der Neo-Ökologischen (8% der Bevölkerung) zur Mittelschicht. Hier fallen die Forderungen nach direkten Transfers jedoch relativ gering aus. Typisch für Milieuangehörige ist eine vergleichsweise hohe (mentale) Krisenresilienz sowie eine gesamtgesellschaftliche, solidarische Perspektive, die den Blick in der politischen Meinungsbildung über die Bedürfnisse der eigenen sozialen Gruppe hinaus richtet.
Die untersuchten Anspruchshaltungen lassen den Vorwurf gegenüber den Ampel-Koalitionären, „Entlastungsillusion permanent zu nähren“ (Siems, 2022), in einem neuen Licht erscheinen. Besonders hohe Ansprüche formulieren die „alte“ und „neue“ Mitte der Gesellschaft. Dass die Transferforderungen am oberen und auch am unteren Ende der Einkommensklassen erkennbar geringer ausfallen, deutet auf die verhärteten Zumutungsaversionen hin, die hinsichtlich Status und materieller Situation in der Mitte bestehen. Dabei ist klar: Der Staat wird die Implikationen der Energiepreiskrise nicht dauerhaft für alle kompensieren können. Höhere Entlastungen heute werden zu höheren zukünftigen Belastungen führen. Während die volkswirtschaftliche Theorie dies unter dem Stichwort „Ricardianische Äquivalenz“ durchschaut, scheinen aktuell in unterschiedlichsten Einkommensschichten und Milieus vor allem die Sorgen um hohe Energierechnungen zu dominieren.
Energiepreise: Teure Forderungen aus der Mitte der Bevölkerung
Institut der deutschen Wirtschaft (IW)
Inflation in der Eurozone: Der Weg bleibt holprig
Die Inflation in der Eurozone befindet sich auf dem Rückzug. Ein Aufatmen wäre aber verfrüht. Zweitrundeneffekte im Arbeitsmarkt sind im vollen Gange und setzen die Geldpolitik weiter unter Druck.
IW
Ökonomische Ungleichheit und das Erstarken des rechten Randes – die empirische Suche nach einem Zusammenhang
Das Erstarken (rechts-)populistischer Parteien wird häufig in den Kontext der aktuellen Verteilungssituation gestellt. Eine große oder wahlweise steigende Ungleichheit gepaart mit einem ausgeprägten Ungerechtigkeitsgefühl wird dabei regelmäßig als ursächlich ...
IW