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Jürgen Matthes / Manuel Fritsch IW-Kurzbericht Nr. 4 28. Januar 2022 Auswirkungen der Sanktionen Chinas gegen Litauen auf die EU

Chinas Handelssanktionen gegen Litauen im Konflikt um Taiwan schaden nicht nur Litauen, sie beeinträchtigen auch den Binnenmarkt. Der Wert litauischer Vorleistungen in den China-Exporten anderer EU-Länder ist zwar meist begrenzt, bei einigen von Litauens Nachbarn aber höher. Die EU darf sich die Überreaktion Chinas schon aus Prinzip nicht bieten lassen.

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Auswirkungen der Sanktionen Chinas gegen Litauen auf die EU
Jürgen Matthes / Manuel Fritsch IW-Kurzbericht Nr. 4 28. Januar 2022

Auswirkungen der Sanktionen Chinas gegen Litauen auf die EU

Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Institut der deutschen Wirtschaft (IW)

Chinas Handelssanktionen gegen Litauen im Konflikt um Taiwan schaden nicht nur Litauen, sie beeinträchtigen auch den Binnenmarkt. Der Wert litauischer Vorleistungen in den China-Exporten anderer EU-Länder ist zwar meist begrenzt, bei einigen von Litauens Nachbarn aber höher. Die EU darf sich die Überreaktion Chinas schon aus Prinzip nicht bieten lassen.

Hintergrund

Das belastete Verhältnis zwischen China und Taiwan wirkt sich inzwischen auch auf Europa aus. Taiwan gehört zwar formell zu China und ist kein eigener Staat, doch als parlamentarische Demokratie mit eigener Regierung ist es dem Willen seines Volks gemäß faktisch unabhängig. Dieser diplomatische Zwitterstatus wird im Rahmen der sogenannten Ein-China-Politik von der Weltgemeinschaft grundsätzlich anerkannt. Auch China hielt sich lange daran. Doch seit einiger Zeit drängt die chinesische Regierung immer aggressiver darauf, Taiwan wieder in seinen Machtbereich einzugliedern. Die Sorge vor einer militärischen Annexion wächst.

Das hat zu Warnungen der USA vor einem Einmarsch Chinas geführt und zu Solidaritätsbekundungen aus Europa. In diesen Kontext gehören auch vermehrte Kontakte unterhalb der offiziellen diplomatischen Ebene zwischen der EU und den EU-Ländern auf der einen Seite und Taiwan auf der anderen. Litauen ging dabei etwas weiter als die EU-Partner und erlaubte Mitte November 2021 in Vilnius die Eröffnung eines Repräsentantenbüros mit der Nennung des Landesnamens statt wie üblich nur der Landeshauptstadt Taipeh. Das stieß bei der chinesischen Regierung auf Ablehnung. Sie reagierte massiv und will ein Exempel statuieren. So zog China seinen Botschafter aus Litauen ab und provozierte die Schließung der litauischen Botschaft in Peking – ein diplomatischer Eklat.

Hinzu kommen Wirtschaftssanktionen in Form eines informellen Handelsboykotts, der zwar von chinesischer Seite offiziell bestritten wird, der aber im Handel klar zu spüren ist und sich auf die ganze EU auswirkt. Nach Recherchen der Europäischen Kommission im Dezember 2021 fertigte der chinesische Zoll litauische Exporte nach China immer weniger ab. China berief sich auf vermeintliche Fehler im Computersystem bei der Handelsabwicklung – und teils wohl darauf, dass chinesische Kunden litauischen Waren (plötzlich) misstrauten. Doch das erscheint wenig glaubwürdig.

Dieser Vorgang ist kein rein bilaterales Problem, sondern betrifft den EU-Binnenmarkt mit seinen engen Wertschöpfungsketten. Denn europäische Tochterfirmen, die in Litauen produzieren und nach China exportieren oder von dort importieren, sind ebenfalls von den Einschränkungen betroffen. Das gilt auch für europäische Firmen, die Vorleistungen aus Litauen beziehen und die fertigen Produkte dann von Europa nach China exportieren. Sie wurden offenbar von den chinesischen Behörden aufgefordert, jegliche Vorleistungen aus Litauen zu vermeiden. Auch europäische Tochterfirmen in China, die Vorleistungen aus Litauen für die Produktion vor Ort verwenden, sind betroffen. Da Chinas Vorgehen intransparent ist, beruhen viele der Informationen auf anekdotischer Evidenz. Das erschwert auch die Abschätzung der Folgewirkungen für die deutsche und europäische Wirtschaft. Die folgenden Ausführungen sollen etwas mehr Licht in dieses Dunkel bringen.

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Litauische Produkte in EU-China-Exporten

Mithilfe der internationalen Input-Output-Tabellen der OECD (ICIO) lässt sich abschätzen, wie viel Vorleistungen aus Litauen in den China-Exporten der übrigen EU-Länder im Jahr 2018 verbaut sind. Es wird dabei angenommen, dass die Relation zwischen dem China-Export und der Produktion einer Branche auch für die Vorleistungen der Branche aus Litauen gilt. Die Abbildung macht deutlich, dass Dänemark unter den übrigen EU-Ländern mit rund 55 Millionen Euro die meisten litauischen Vorleistungen in seinen China-Exporten nutzt. In Deutschland liegt dieser Wert bei über 27 Millionen Euro und in Frankreich bei rund 14 Millionen Euro.

Schaut man auf die deutschen Branchen, zeigt sich ein unterschiedliches Bild. Die meisten litauischen Vorleistungen werden mit 3,6 Millionen Euro von der deutschen Autoindustrie in ihren China-Exporten verbaut. An zweiter und dritter Stelle rangieren die Chemische Industrie mit 3,1 Millionen Euro und der Maschinenbau mit 3,0 Millionen Euro. Damit nutzen diese drei Branchen zusammen rund 35 Prozent der gesamten litauischen Vorleistungen in den deutschen China-Exporten.

Wichtig ist zudem die Frage, wie groß der Anteil der litauischen Vorleistungen an den China-Exporten der EU-Länder ist. Die Abbildung zeigt, dass die Relevanz Litauens bei den meisten EU-Ländern eng begrenzt ist. Die Quoten liegen bei den meisten EU-Ländern bei 0,1 Prozent und darunter. Eine Ausnahme bilden einige Nachbarländer. In Lettland liegt der Anteil der litauischen Vorleistungen in den China-Exporten des Landes bei immerhin über 3,5 Prozent. In Estland liegt diese Quote bei 1,6 und in Dänemark bei 0,5 Prozent.

Für die EU insgesamt sind die Folgewirkungen also ökonomisch begrenzt. Einzelne Firmen bekommen sie aber direkt zu spüren, wenn ihre etablierten Wertschöpfungsketten im Handel mit China blockiert werden.

Auswirkungen auf Litauen

Chinas Relevanz für Litauen lässt sich mit den Input-Output-Tabellen aus verschiedenen Blickwinkeln für das Jahr 2018 beleuchten. Der Exportanteil Chinas beträgt rund 1,3 Prozent, wenn man auf die in den Exporten enthaltene litauische Wertschöpfung blickt und China als Zielland in Relation zur Welt insgesamt setzt. Wenn man jedoch fragt, wie viel litauische Wertschöpfung sich im Endverbrauch von fertigen Konsum- und Investitionsgütern in China und in der Welt wiederfindet, erhält man eine Relation von 2,9 Prozent. Dieser umfassendere „Exportanteil“ zeigt, dass Litauen vor allem bei Vorleistungen stark ist, die erst in andere Länder versendet, dort in Fertigprodukte verbaut werden und schließlich im chinesischen Endverbrauch landen. Der Anteil der litauischen Wertschöpfung, die direkt oder indirekt in den chinesischen Endverbrauch geht, an der gesamten litauischen Wertschöpfung beträgt 1,2 Prozent (zum Vergleich: 2,7 Prozent in Deutschland). Nur deutlich weniger als die Hälfte davon geht auf die direkte Exportverflechtung Litauens mit China zurück. Die ökonomischen Folgen des informellen chinesischen Handelsboykotts könnten also für Litauen spürbar werden, wenn europäische Firmen zunehmend auf litauische Vorleistungen verzichten oder ihre Standorte aus Litauen abziehen. Soweit Firmen bei Standortverlagerungen von Litauen aus nicht nur nach China, sondern auch in andere Länder exportieren, steht noch deutlich mehr Wertschöpfung für Litauen auf dem Spiel.

Einordnung und politische Empfehlungen

Obwohl die gesamtwirtschaftlichen ökonomischen Wirkungen auf die EU begrenzt sind, unterminiert das Agieren Chinas die Funktionsfähigkeit des Binnenmarktes. Das ist nicht hinzunehmen. Es geht hier ums Prinzip. Nach anfänglichem Zögern hat die Bundesregierung dies deutlich gemacht und zudem Solidarität mit Litauen bekundet. Da es um den Binnenmarkt geht, ist es richtig, dass die Europäische Kommission sich vorrangig um dieses Problem kümmert. Auch weil Chinas Regierung eine Beteiligung abstreitet, kommt die EU mit ihrer intensiven Handelsdiplomatie nicht weiter. Daher ist es richtig, dass sie die Sache vor die WTO bringt. Ein WTO-Verfahren dauert zwar lange, aber mit diesem Schritt kann die EU das problematische chinesische Verhalten in Genf öffentlich anprangern.

Ist dies auch nicht zielführend, sollte die EU mit Gegensanktionen drohen. Dazu braucht es allerdings Einigkeit unter den Mitgliedstaaten im Rat der Außenminister. Der informelle chinesische Handelsboykott könnte damit zu einem erneuten Prüfstein für die europäische Einigkeit und Handlungsfähigkeit werden. Weil die in der Vergangenheit etwa in Menschenrechtsfragen nicht immer gewährleistet war, hatte die Europäische Kommission Ende 2021 ein sogenanntes Anti-Coercion-Instrument zum Schutz vor wirtschaftlicher Erpressung vorgeschlagen. Es hat zum Ziel, dass die Kommission selbst die Beschlusshoheit für Gegensanktionen erhält, um so schneller handlungsfähig zu sein, falls Rat oder Europäisches Parlament nicht explizit widersprechen. Diese Drohgebärde soll im Idealfall Staaten wie China davor abschrecken, handelspolitische Maßnahmen mit Sanktionscharakter zu ergreifen, weil sie mit einer Gegenreaktion rechnen müssen. Ein solches Instrument wäre im aktuellen Fall dringend nötig. Daher sollte es in Brüssel so schnell wie möglich auf den Weg gebracht werden.

Das chinesische Vorgehen gegenüber Litauen hat grundsätzliche Implikationen für den Umgang mit China. Es zeigt, wie willkürlich China agiert, wie wenig es sich an Regeln hält, wie sehr es dies zu verschleiern sucht und wie unerbittlich es gegenüber vermeintlich schwächeren Staaten agiert, wenn es seine Interessen verletzt sieht. Das könnte China letztlich in dreifacher Hinsicht auf die Füße fallen:

  • Die EU hat die Strategie, China je nach Sachverhalt als Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale zu behandeln. Der informelle Handelsboykott wird dabei die Balance noch weiter weg von Chinas Rolle als konstruktiver Partner zu verlagern.
  • Gerade gegenüber Deutschland war Peking in den letzten Monaten sehr bemüht, sich als verlässlicher Kooperationspartner zu zeigen, um einen härteren Kurs der neuen Bundesregierung zu verhindern. Der Fall Litauen gibt den Falken in Berlin zu Recht Aufwind und macht die Flügel der Tauben lahmer.
  • Für europäische Unternehmen ist die Causa Litauen ein erneuter Weckruf dafür, wie schnell sie zur Figur auf dem Schachbrett der Geopolitik werden können. Immer mehr Firmen dürften daher kritisch prüfen, ob sie nicht zu abhängig von China sind.
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