Transformation impliziert große Veränderungen und große Veränderungen laufen immer Gefahr, als gesellschaftliche Frakturen empfunden zu werden.
Spaltet die Transformation unsere Gesellschaft?: Die komplexe Organisation von Mehrheiten in Zeiten zunehmender Zumutungsaversionen
in: Knut Bergmann / Matthias Diermeier (Hg.), Transformationspolitik
Institut der deutschen Wirtschaft (IW)
Transformation impliziert große Veränderungen und große Veränderungen laufen immer Gefahr, als gesellschaftliche Frakturen empfunden zu werden.
Der Soziologe Stephan Lessenich macht den schwierigen Umgang mit den Brüchen daher an der Abwesenheit von Normalität fest und vermutet einen »Phantomschmerz, der durch den Verlust von etwas entsteht, das gewesen ist oder angeblich gewesen sein soll«.
Das entstehende Defizitgefühl kann sich sogar noch verstärken, wenn gänzlich unterschiedliche Transformationstreiber »Gleichzeitig« (Demary et al. 2021) wirken: Ähnlich wie die Wirtschaft parallel mit Digitalisierung, Dekarbonisierung, Deglobalisierung und der demografischen Alterung zu kämpfen hat, treiben artverwandte Umbrüche aktuell auch die deutsche Gesellschaft um. Aufgrund der von vielen als Überforderung empfundenen Veränderungen wird zunehmend eine »gewisse Transformationsmüdigkeit« (Mau et al. 2023: 264) konstatiert. Diese kann in gruppenübergreifenden Reaktanzen resultieren, wenn sich etwa das Gefühl einstellt, man befände sich an einem Kipppunkt (slippery slope). Gäbe man jetzt nach – so die Intuition –, würde einem immer mehr und mehr abverlangt: »Was kommt dann als nächstes?«
Je nach politischer Großwetterlage bekommen unterschiedliche Politikfelder jeweils Relevanz. Legt man etwa die Befragungsergebnisse des Politbarometers der Forschungsgruppe Wahlen (2023) im Herbst 2023 zugrunde, führt die Energie- und Klimapolitik die Sorgenliste der Deutschen an – und hat damit den Krieg in der Ukraine als das »gegenwärtig wichtigste Problem« über- 42 Gesellschaftspolitik: Partizipation, Ost − West, Populismus, Narrative, Nudges flügelt. Auf den Plätzen drei und vier folgen die Kategorien »Kosten/Löhne/ Preise« sowie »Ausländer/Integration/Flüchtlinge«. Während die Gesellschaft die Corona-Pandemie spätestens seit dem Frühjahr 2022 abgehakt zu haben scheint, ist die Migrationspolitik damit aus einer Art pandemiebedingter Versenkung wieder aufgetaucht.
Ob Migration, Inflation, Ungleichheit oder der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und steigende Energiepreise – die Brüche haben gemein, dass sie die Deutschen verunsichern wie lange nicht mehr: Laut IW-Personenbefragung vom Frühjahr 2023 ist der Anteil der Bevölkerung, der angibt, sich keine Sorgen zu machen, hinsichtlich des Themas Zuwanderung mit 20,9 Prozent noch am höchsten. Mit Blick auf die Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine macht die Gruppe der Unbesorgten gerade einmal 7,6 Prozent aus. Damit überwiegt hinsichtlich aller Politikfelder bei Weitem der Anteil der Besorgten.
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IW