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Judith Niehues / Tim Gensheimer / Matthias Diermeier / Silke Borgstedt IW-Kurzbericht Nr. 87 24. Oktober 2022 Energiekrise: Sinkende Sparmöglichkeiten bis in die Mittelschicht

Während im Jahr 2020 noch 70 Prozent der Deutschen regelmäßig etwas (an)sparen konnten, liegt dieser Anteil aktuell nur mehr bei 50 Prozent. Zudem legen Sparende heute mehrheitlich deutlich weniger Geld zur Seite als im Vorjahr. Doch nicht nur die Sparmöglichkeiten gehen zurück: Bereits jetzt haben 61 Prozent ebenso ihre Ausgaben aufgrund der gestiegenen Energiepreise stark oder sehr stark reduziert. Auch die Mitte der Gesellschaft gerät zunehmend unter Druck.

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Sinkende Sparmöglichkeiten bis in die Mittelschicht
Judith Niehues / Tim Gensheimer / Matthias Diermeier / Silke Borgstedt IW-Kurzbericht Nr. 87 24. Oktober 2022

Energiekrise: Sinkende Sparmöglichkeiten bis in die Mittelschicht

Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Institut der deutschen Wirtschaft (IW)

Während im Jahr 2020 noch 70 Prozent der Deutschen regelmäßig etwas (an)sparen konnten, liegt dieser Anteil aktuell nur mehr bei 50 Prozent. Zudem legen Sparende heute mehrheitlich deutlich weniger Geld zur Seite als im Vorjahr. Doch nicht nur die Sparmöglichkeiten gehen zurück: Bereits jetzt haben 61 Prozent ebenso ihre Ausgaben aufgrund der gestiegenen Energiepreise stark oder sehr stark reduziert. Auch die Mitte der Gesellschaft gerät zunehmend unter Druck.

Aufgrund der pandemiebedingt beschränkten Konsummöglichkeiten hatten sich die Ersparnisse der privaten Haushalte in Deutschland bis zum 1. Quartal 2022 um rund 185 Mrd. Euro erhöht (Deutsche Bundesbank, 2022). Diese Rücklagen dürften in vielen Haushalten mittlerweile jedoch aufgebraucht sein (Wollmershäuser, 2022): Zum einen wurde der Konsum Anfang 2022 deutlich ausgeweitet, zum anderen zehren nunmehr die steigenden Lebensmittel- und Energiepreise an den Ersparnissen. So berichten in einer repräsentativen Online-Befragung von SINUS-Institut und Institut der deutschen Wirtschaft (IW) 67 Prozent der Befragten über starke oder sehr starke finanzielle Belastungen durch die steigende Energiepreise (Diermeier et al., 2022).

Tatsächlich beunruhigt die aktuelle Situation insbesondere im mittelfristigen Vergleich. Auswertungen auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) zeigen, dass selbst in der wirtschaftlich schwierigen Zeit zu Beginn der 2000er Jahre rund 60 Prozent der Bevölkerung in Haushalten lebten, die regelmäßig Vermögensbildung oder vorsorgliches Sparen betreiben konnten. Im Zuge der breiten Realeinkommenssteigerungen ab 2010 nahmen die Sparmöglichkeiten dann zu, sodass dieser Anteil im Jahr 2020 auf 70 Prozent der Bevölkerung anstieg. Wenig überraschend hängen die Sparmöglichkeiten stark von der Einkommenssituation ab. In Haushalten mit bedarfsgewichteten Einkommen unter 1.500 Euro pro Monat gab 2020 im Durchschnitt etwas mehr als ein Drittel an, regelmäßig einen bestimmten Betrag je Monat beiseitezulegen. Im einkommensstärksten Fünftel der Bevölkerung (ab 3.000 Euro) traf dies auf mehr als 90 Prozent zu (hellblaue Säulen in der Grafik).

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Die vorliegende SINUS-IW-Befragung ermöglicht den Blick auf die Spartätigkeit der Haushalte in der Energiepreiskrise: So geben derzeit nur noch 50 Prozent der Befragten an, dass ihnen monatlich ein Betrag übrigbleibt, den Sie sparen oder zurücklegen können. Selbst in der Mitte der Einkommensverteilung (2.000 bis 2.500 Euro) können nur noch 52 Prozent einen gewissen Betrag sparen. In Haushalten mit bedarfsgewichteten Einkommen unterhalb von 1.500 Euro trifft dies sogar lediglich auf 20 Prozent zu. Im Vergleich zu den SOEP-Werten des Jahres 2020 können aktuell insbesondere in den Einkommensgruppen der unteren Mittelschicht und knapp oberhalb des Medianeinkommens (in der SINUS-IW Befragung rund 2.080 Euro) deutlich weniger Menschen Geld zurücklegen (dunkelblaue Säulen in der Grafik).

Unter denjenigen, die derzeit noch zu sparen vermögen, beträgt der monatliche Sparbetrag im Durchschnitt rund 550 Euro. Beträchtliche Unterschiede bestehen hierbei zwischen den Einkommensgruppen. Während Sparende aus Haushalten mit bedarfsgewichteten Einkommen von weniger als 1.500 Euro knapp 220 Euro beiseitelegen (Median 100 Euro), sind es in Haushalten mit Einkommen zwischen 3.000 und 4.000 Euro durchschnittlich rund 710 Euro (Median 500 Euro) und in Haushalten mit mehr als 4.000 Euro Einkommen rund 1.200 Euro (Median 800 Euro).

Die Sparmöglichkeiten haben sich nach Auskunft der Befragten in den letzten 12 Monaten deutlich verschlechtert. Im Vergleich zum Vorjahr können 61 Prozent der Befragten aktuell etwas oder deutlich weniger Geld zurücklegen (davon 39 Prozent „deutlich weniger“). In Haushalten mit bedarfsgewichteten Einkommen von weniger als 1.500 Euro können sogar 71 Prozent weniger sparen. In den Einkommensgruppen der Mittelschicht geben 55 bis 65 Prozent der Befragten an, dass sich ihre Sparmöglichkeiten verschlechtert haben. Unter Befragten mit den höchsten Einkommen (über 4.000 Euro) fällt dieser Anteil deutlich geringer aus. (lila Rauten in der Grafik).

Wie sehr die Energiepreiskrise bereits an den Rücklagen der privaten Haushalte gezehrt hat, zeigt auch, dass bereits Anfang September 61 Prozent aller Befragten ihre Ausgaben nach Selbstauskunft stark oder sehr stark reduziert haben. Je nach Einkommenshöhe variiert der entsprechende Anteil zwischen 39 Prozent (bedarfsgewichtete Einkommen ab 4.000 Euro) und 77 Prozent (bedarfsgewichtete Einkommen unter 1.500 Euro). Unter denjenigen, deren Sparmöglichkeiten deutlich geringer ausfallen als im Vorjahr, geben sogar 87 Prozent an, dass sie ihre Ausgaben stark oder sehr stark zurückgefahren haben. Ein Konsummotor wie im ersten Halbjahr 2022 ist aufgrund der mittlerweile niedrigeren Ersparnisse demnach nicht zu erwarten.

Wie sich diese Ergebnisse im Denken und Handeln verschiedener sozialer Milieus sowie auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt auswirken, lässt sich im Gesellschaftsmodell der Sinus-Milieus analysieren. Diese fassen Menschen mit ähnlichen Werten und einer vergleichbaren sozialen Lage zu zehn „Gruppen Gleichgesinnter“ in Deutschland zusammen (Barth et al, 2018).

Gerade in der Mitte kristallisiert sich auch aus Milieu-Perspektive eine erhebliche empfundene Betroffenheit heraus. Nur knapp über 40 Prozent der beiden Mitte-Milieus können noch Geld beiseitelegen. Sie fühlen sich alleingelassen und empfinden überdurchschnittliche Belastungen (Diermeier et al., 2022).

Gleichzeitig sind die beiden Gruppen in hohem Maße heterogen. Auf der einen Seite steht die moderne Adaptiv-Pragmatische Mitte (12% der Bevölkerung), die sich stets flexibel und kompromissbereit an die Veränderungen der Gesellschaft anpasst. Aufgrund von lebensphasenbedingt mittel- und langfristigen Ausgaben (z.B. Immobilienkredit, Bildungsinvestitionen) hat dieses Milieu höhere Fixkosten. Fehlen finanzielle Ressourcen, passt man den Alltagskonsum und die Freizeit-Ausgaben an. Entsprechend haben überdurchschnittliche 72 Prozent der Befragten des Milieus ihre Ausgaben bereits stark oder sehr stark reduziert. Vom Staat werden Anreize erwartet, um das eigene Verhalten anzupassen und man ist nicht erst seit der Energiepreiskrise verunsichert, ob die Aufstiegserzählung der Vorgängergenerationen noch zutrifft. Auf der anderen Seite der Mitte steht das Nostalgisch-Bürgerliche Milieu (11% der Bevölkerung), im Selbstbild das „Rückgrat der Gesellschaft“. Das Lebensziel bildet ein gutbürgerlicher Lebensstil mit gesicherten Verhältnissen. In den vergangenen Jahrzehnten wurde auf ein kontinuierliches Wohlstandsversprechen vertraut und dieses auch erlebt. Eine dauerhafte Verschlechterung der finanziellen Situation kommt einem sozialen Gesichtsverlust gleich. Dieses Milieu erlebt mit einem Anteil von 73 Prozent, der seine Spartätigkeit zurückfahren musste, ebenfalls starke Betroffenheit. Die Verärgerung über die Politik ist entsprechend groß.

Auch die bessergestellten Milieus geraten finanziell unter Druck, allerdings in geringerer Intensität. Hierunter fällt das Milieu der Performer (10% der Bevölkerung), wo langfristige finanzielle Einschränkungen durchaus bitter aufstoßen würden, aber eigenverantwortliche Lösungen und Verhaltensänderungen („Flucht nach vorn“) gegenüber staatlicher Fürsorge bevorzugt werden. Zwar musste auch dieses Milieu seine Sparquote im Vergleich zum Vorjahr zurückfahren, jedoch von allen Milieus am wenigsten: Noch immer geben 69 Prozent dieser fortschrittsoptimistischen Leistungselite an, Rücklagen bilden zu können. Daneben möchte das Postmaterielle Milieu (12% der Bevölkerung) als das „gute Gewissen“ der Gesellschaft dem Ideal einer nachhaltigen und gemeinwohlorientierten Lebensführung möglichst nahekommen. Die aktuelle Energie- und Preiskrise dürfte diese engagierte Bildungselite als gesamtgesellschaftliche Chance zu einem (schon) lange propagierten nachhaltigeren Lebensstil sehen. Der Spareranteil liegt hier bei überdurchschnittlichen 63 Prozent.

Gerade der Blick auf die spezifischen Betroffenheiten und Bedarfe verschiedener sozialer Milieus mag deutlich machen, weshalb die Bundesregierung mit ihrer Ankündigung einer Gaspreisbremse nochmals mit breit angelegten Staatshilfen weit über bereits beschlossene Entlastungsmaßnahmen hinaus geht. Prekäre Haushalte stehen vor existentiellen Fragen, während in den Milieus der gesellschaftlichen Mitte das Selbstverständnis einer abgesicherten Zukunft wankt. Spiegelbildlich zu den Demonstrationen, zu denen die politischen Extreme aufrufen, sorgen sich Anfang September 71 Prozent der Deutschen, dass es wegen der Energiepreise zu Unruhen und Protesten kommt. Während die Entscheidung über eine Energiepreisbremse zur Stabilisierung der finanziellen Spielräume und des sozialen Zusammenhalts verständlich ist, bleibt weiterhin die Herausforderung, eine akute Gasmangellage im Winter zu vermeiden, deren Effekte für Wirtschaft und Gesellschaft kaum einschätzbar sind. Elementar wird daher sein, die Energiepreisebremse und ihre Kommunikation so zu gestalten, dass den Haushalten die größte finanzielle Unsicherheit genommen wird und gleichzeitig die Bedeutung des Energiesparens bewusst bleibt.

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