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Galina Kolev / Thomas Obst IW-Kurzbericht Nr. 37 14. Juni 2021 Schlummernde Wachstumspotenziale im deutschen Arbeitsmarkt

Ein Ländervergleich mit der Schweiz und Schweden zeigt deutliche Arbeitskräftepotenziale am deutschen Arbeitsmarkt auf, deren Entfaltung entsprechende Wachstumspotenziale eröffnen kann. Eine graduelle Erhöhung der Erwerbstätigenquote um 2,5 Prozentpunkte und der Jahresarbeitszeit um 11 Prozent (auf das Schweizer Niveau) könnte das preisbereinigte deutsche Bruttoinlandsprodukt nach zehn Jahren um bis zu 8 Prozent steigern, während die Schuldenstandsquote um mehr als 16 Prozentpunkte sinken könnte.

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Schlummernde Wachstumspotenziale im deutschen Arbeitsmarkt
Galina Kolev / Thomas Obst IW-Kurzbericht Nr. 37 14. Juni 2021

Schlummernde Wachstumspotenziale im deutschen Arbeitsmarkt

Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Institut der deutschen Wirtschaft (IW)

Ein Ländervergleich mit der Schweiz und Schweden zeigt deutliche Arbeitskräftepotenziale am deutschen Arbeitsmarkt auf, deren Entfaltung entsprechende Wachstumspotenziale eröffnen kann. Eine graduelle Erhöhung der Erwerbstätigenquote um 2,5 Prozentpunkte und der Jahresarbeitszeit um 11 Prozent (auf das Schweizer Niveau) könnte das preisbereinigte deutsche Bruttoinlandsprodukt nach zehn Jahren um bis zu 8 Prozent steigern, während die Schuldenstandsquote um mehr als 16 Prozentpunkte sinken könnte.

Am deutschen Arbeitsmarkt kann auf eine „goldene Dekade“ mit einem lang anhaltenden Beschäftigungsboom und steigenden Nominallöhnen zurückgeblickt werden. Diese Entwicklung hat durch gestiegene Steuer- und Beitragsaufkommen maßgeblich zu der erfolgreichen Konsolidierung des Staatshaushalts beigetragen. Die Schuldenstandsquote sank von 80 Prozent nach der Finanzkrise unter die Maastricht-Grenze von 60 Prozent im Jahr 2019 (Hüther, 2019). Pandemiebedingt wurde dieser Trend Anfang 2020 gestoppt. Im Krisenjahr 2020 sank das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um knapp 5 Prozent, die Erwerbstätigenzahl schrumpfte um über 1 Prozent und das Arbeitsvolumen brach um 4,7 Prozent ein.

Hinzu kommt der demografische Wandel. So wird nach aktuellen Schätzungen des Statistischen Bundesamtes (2019) die Anzahl der erwerbsfähigen Personen im Alter von 20 bis 64 Jahren von heute fast 50 Millionen bis 2030 bereits um 4 Millionen schrumpfen. Der Sachverständigenrat (SVR, 2020) sieht bei seiner Prognose zur Bestimmung des Produktionspotenzials das abnehmende Arbeitsvolumen und die sinkende Arbeitsproduktivität in Deutschland ebenfalls als gravierendes Problem (SVR, 2020). Somit erscheint die naive Hoffnung der Politik, aus dem Corona-Schuldenberg herauszuwachsen, voraussetzungsvoll, da sie sehr ambitionierte Reformen durchführen müsste, um in einer alternden Gesellschaft und angesichts des anstehenden Strukturwandels weitere Erwerbstätigkeit zu mobilisieren. 

Um dennoch mögliche Wachstumspfade aus der Krise heraus zu identifizieren, analysieren Hüther et al. (2021) im Kontext eines europäischen Ländervergleichs eine Bandbreite politischer Handlungsoptionen. Sie zeigen auf, welche Arbeitskräftepotenziale am deutschen Arbeitsmarkt nach der Pandemie zu erwarten sind. Dazu wurden Schweden und die Schweiz als beschäftigungspolitische Erfolgsmodelle gewählt, die über ein ähnliches Wirtschafts- und Sozialmodell verfügen. Die Schweiz weist zudem eine der deutschen ähnlich stark industrieorientierte Wirtschaftsstruktur auf.

Auch wenn eine weitere Ausdehnung der Erwerbstätigkeit in Deutschland bereits ausgeschöpft zu sein scheint, zeigt der Ländervergleich deutliche Arbeitsmarktpotenziale auf, die in der nächsten Dekade aktiviert werden könnten:

  • Die Jahresarbeitszeit (Wochenarbeitszeit und Arbeitswochen) liegt in Schweden um 7 Prozent höher und in der Schweiz um 11 Prozent höher als in Deutschland.
  • Eine Steigerung der Erwerbsbeteiligung um 2,5 Prozentpunkte erhöht das Arbeitsvolumen um 1,83 Milliarden Stunden in Deutschland.
  • Überträgt man die schweizerische Wochenarbeitszeit und die Jahresarbeitswochen auf das deutsche Arbeitsmarktmodell ergibt sich ein Potenzial von 
7,7 Milliarden Stunden (4,7 Millionen Vollzeitäquivalente). 
     

 

Inhaltselement mit der ID 9510
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Der wesentliche Hebel liegt bei den Arbeitszeiten. So arbeiten in der Schweiz Männer und Frauen pro Kopf nicht nur deutlich mehr Stunden pro Woche, sondern auch fast anderthalb Arbeitswochen mehr im Jahr als hierzulande. Dieses Potenzial kann mit Blick auf die Referenzländer unter anderem durch den Abbau unfreiwilliger Teilzeit oder eine Angleichung der Wochenarbeitszeit der Frauen an die der Männer mithilfe gezielter Rahmenbedingungen wie eine verbesserte Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie entsprechende Verbesserungen der Beschäftigungsanreize im Steuersystem mobilisiert werden. 

Um die Größenordnung der zu erwartenden Effekte abzuschätzen, wurden Simulationen mit dem makroökonometrischen Weltwirtschaftsmodell von Oxford Economics durchgeführt. Das Modell ist monetaristisch in der langen Frist, sodass die langfristige Wirtschaftsentwicklung von angebotsseitigen Faktoren wie dem Human­kapital, dem Arbeitsvolumen und dem Kapitalstock bestimmt wird. Genau an dieser Stelle setzen die Veränderungen an, die sich im Zuge einer Anpassung der deutschen Arbeitswelt auf das Schweizer Modell ergeben würden. Eine Erhöhung der wöchentlichen Arbeitszeit schlägt sich direkt in einer Erhöhung des langfristigen Produktionspotenzials nieder, indirekt nimmt sie Einfluss auf das Investitionsverhalten der Unternehmen und erhöht somit den gesamtwirtschaftlichen Kapitalstock. Die Steigerung der Erwerbstätigenquote geht mit einer Erhöhung der allgemeinen Partizipationsrate und der Wirtschaftsleistung einher.

Die Ergebnisse der Modellsimulationen sind in der Abbildung dargestellt. Hierbei handelt es sich um eine graduelle Erhöhung der Jahresarbeitszeit sowie der Erwerbstätigenquote auf das Schweizer Niveau über die kommenden zehn Jahre. Das erste Szenario betrachtet eine Anpassung der Wochenarbeitsstunden im Durchschnitt in Deutschland (etwa 34 Stunden in 2019) auf das Schweizer Niveau (über 36 Stunden in 2019). Im zweiten Szenario werden graduell sowohl die Wochenarbeitsstunden als auch die Arbeitswochen auf das Schweizer Niveau (Zeiteffekt) erhöht und der kombinierte Effekt berechnet. Im dritten Szenario erfolgt eine graduelle Steigerung der Erwerbstätigenquote um 2,5 Prozentpunkte bis 2031 (Partizipationseffekt). Zusätzlich werden jeweils zwei kombinierte Effekte aus (a) Szenario 1 und 3 sowie (b) Szenario 2 und 3 ermittelt. 

Die auf diese Weise erreichbaren Potenziale sind beträchtlich. Allein die Steigerung der Arbeitszeit (Szenario 2) geht mit einem um 6 Prozent höheren preisbereinigten BIP nach zehn Jahren einher. Kommt noch der Anstieg der Erwerbstätigenquote hinzu, so liegt die Wirtschaftsleistung um fast 8 Prozent höher als im Basisszenario. Mit dem gestiegenen BIP geht auch eine erhebliche Beschleunigung des Entschuldungsprozesses einher, sodass die Schuldenstandsquote je nach Umfang der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen nach zehn Jahren um knapp 5 bis gut 16 Prozentpunkte unter dem Niveau liegt, das sich bei Beibehaltung des heutigen Niveaus der Arbeitszeit und der Erwerbstätigenquote abzeichnet. Wichtig ist zu unterstreichen, dass es sich hierbei um Modellsimulationen handelt, denen zahlreiche Annahmen zu den Wirkungszusammenhängen zugrunde liegen. Deshalb sind die Ergebnisse eher als eine erste Schätzung der Größenordnung zu interpretieren. Es sind keine Prognosen über dessen tatsächliche Entwicklung, denn die untersuchten Variablen sind gegenseitigen Kausalitäten unterworfen mit entsprechenden Anpassungseffekten. So kann eine Ausdehnung der Erwerbsbeteiligung die durchschnittliche Jahresarbeitszeit senken, wenn die neue Beschäftigung vorwiegend in Teilzeit geleistet wird.

Auch wenn eine Wiederholung der goldenen Dekade am deutschen Arbeitsmarkt nicht ohne Weiteres zu replizieren ist, würde bereits eine Teilausschöpfung dieser vorhandenen Hebungspotenziale – besonders über den Zeiteffekt – beträchtliche Wachstumszugewinne bedeuten. Zudem können bereits knapp 5 Prozentpunkte der Schuldenstandsquote (Szenario 3 nach 10 Jahren) durch die bereits in verschiedenen Prognosen erwarteten Anstiege der Erwerbsbeteiligung abgebaut werden. 

Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass ein Herauswachsen aus der krisenbedingt erhöhten Schuldenquote durch mutige angebotsseitige arbeitsmarktpolitische Maßnahmen denkbar ist. Das dadurch steigerbare Produktionspotenzial kann einen entscheidenden Beitrag zur Senkung der im Zuge der COVID-19-Krise gestiegenen Schuldenstandsquote leisten. Doch es handelt sich dabei um keinen Selbstläufer, sondern erfordert die richtigen Weichenstellungen, um ein höheres Arbeitsvolumen in der nächsten Dekade in Deutschland zu mobilisieren.

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