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Christian Rusche IW-Kurzbericht Nr. 43 28. Juni 2023 Deindustrialisierung: Eine Analyse auf Basis von Direktinvestitionen

Spätestens seit den steigenden Energiepreisen in Folge des Angriffs Russlands auf die Ukraine wird eine Deindustrialisierung befürchtet. Eine Analyse auf Basis von Direktinvestitionsströmen zeigt, dass zunehmend Kapital aus Deutschland abfließt. Diese Entwicklung begann schon vor der Corona Pandemie.

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Eine Analyse auf Basis von Direktinvestitionen
Christian Rusche IW-Kurzbericht Nr. 43 28. Juni 2023

Deindustrialisierung: Eine Analyse auf Basis von Direktinvestitionen

Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Institut der deutschen Wirtschaft (IW)

Spätestens seit den steigenden Energiepreisen in Folge des Angriffs Russlands auf die Ukraine wird eine Deindustrialisierung befürchtet. Eine Analyse auf Basis von Direktinvestitionsströmen zeigt, dass zunehmend Kapital aus Deutschland abfließt. Diese Entwicklung begann schon vor der Corona Pandemie.

Der Standort Deutschland ist in den vergangenen Jahren, die durch Pandemie und den russischen Angriffskrieg gekennzeichnet sind, mit erheblichen Herausforderungen konfrontiert. Dazu gehören unter anderem steigende Energiepreise, Abhängigkeiten und Lieferprobleme bei kritischen Rohstoffen oder Wettbewerber, die auch durch Subventionen an Attraktivität gewinnen (Hüther, 2023). Daher wurde eine mögliche Deindustrialisierung Deutschlands befürchtet (ebenda). Da sich das Verarbeitende Gewerbe im Vergleich zu anderen Industriestaaten eine hohe Bedeutung erhalten hat (ebenda), ist dies für die Bundesrepublik eine gravierende Herausforderung.

Direktinvestitionen

Dieser Kurzbericht hat das Ziel, anhand von Daten zu Direktinvestitionsflüssen die These zur Deindustrialisierung zu untersuchen. Die Betrachtung von Direktinvestitionen bietet unter anderem zwei Vorteile. Zum einen liegt eine Definition der OECD (2008) vor, die von den OECD-Staaten und einigen Nicht-OECD-Staaten angewendet wird. Dadurch können 38 OECD-Staaten (u. a. USA, UK, Japan und Deutschland) sowie acht weitere Staaten (u. a. China, Indien und Brasilien) miteinander verglichen werden. Der zweite Vorteil ist, dass Direktinvestitionen strategische Entscheidungen und damit längerfristiger Natur sind. Investitionen müssen eine gewisse Höhe erreichen und damit mit Einfluss auf die Geschäftsführung verbunden sein, um als Direktinvestition zu gelten. Bei einer Beteiligung von mindestens zehn Prozent der Stimmrechte wird von einer Direktinvestition ausgegangen (OECD, 2008). Zu Direktinvestitionen zählen vor allem Übernahmen, Neugründungen, Reinvestitionen von Gewinnen und Kredite zwischen verbundenen Unternehmen über Ländergrenzen hinweg. Die Aufzählung zeigt, dass Investoren solche langfristigen Investitionsentscheidungen nur durchführen, wenn sie nicht nur kurzfristig Erfolgsaussichten sehen.

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Die Abbildung gibt die Zuflüsse an Direktinvestitionen nach Deutschland, die Abflüsse aus Deutschland und die Differenz aus Zu- und Abflüssen 2013 bis 2022 sowie speziell für die vier Quartale des Jahres 2022 auf Basis von OECD-Daten (2023) wieder. In den Jahren 2014 bis 2018 ist die Differenz von rund minus 87 Milliarden US-Dollar (USD) auf rund minus 25 Milliarden USD gestiegen. Für diese Entwicklung sind vor allem steigende Zuflüsse nach Deutschland verantwortlich. Ab 2019 ist die Differenz mit Ausnahme des ersten Pandemiejahres jedoch erheblich gefallen. Somit hat sich der Netto-Abfluss an Kapital aus Deutschland zwischen 2014 und 2018 zunächst abgeschwächt, während er ab 2019 jedoch stark zugenommen hat.

Der Wert im Jahr 2022 mit rund -132 Milliarden USD stellt zudem den höchsten, bisher verzeichneten Netto-Abfluss dar (Deutsche Bundesbank, 2023; die Bundesbank gibt rund 125 Milliarden Euro an). Im Vergleich der 46 Staaten ist dies im Jahr 2022 der höchste Abfluss. Ebenfalls hohe Netto-Abflüsse lagen in Japan mit 129 Milliarden USD und dem UK mit circa 116 Milliarden USD vor. Doch auch in den Jahren 2021 und 2019 belegt Deutschland vordere Plätze (OECD, 2023). Im Jahr 2021 sind die Netto-Abflüsse aus Deutschland am dritthöchsten (davor: UK mit Abflüssen von rund 156 Milliarden USD und Japan mit 122 Milliarden USD). Im Jahr 2019 führt Japan mit Netto-Abflüssen von 219 Milliarden USD vor Deutschland mit rund 98 Milliarden USD. Dahinter folgt die Schweiz mit rund 36 Milliarden USD.

Gründe

Der Bruch in der Entwicklung zwischen 2018 und 2019 stützt die Analyse von Sinn (2022), wonach die Automobilindustrie in Folge zu hoher Abgas-Grenzwerte, deren Verschärfung Ende 2018 beschlossen wurde, ihre Wettbewerbsfähigkeit zum Teil einbüßt, da die Grenzwerte zu einer Entwicklung weg vom Verbrennungsmotor führen, auf den die Unternehmen vor allem spezialisiert sind. Da die Automobilindustrie eine deutsche Schlüsselindustrie darstellt, sei die Industrie in Deutschland somit „herzkrank“ (ebenda).

Eine weitere Ursache kann im NextGenerationEU-Programm liegen. Ab Juni 2021 werden EU-Staaten Zuschüsse und Kredite von mehr als 800 Milliarden Euro gewährt. Da die höchsten Zahlungen und dadurch ausgelöste Investitionen nicht in Deutschland stattfinden, kann dies zu Abflüssen von Kapital ins Ausland beigetragen haben.

Der Krieg in der Ukraine und die dadurch ausgelösten Energiepreissteigerungen sowie Unsicherheiten in der Energiesicherheit, die durch die Abschaltung von Kernkraftwerken nicht vermindert wurden, dürften ebenfalls eine Ursache für die gestiegenen Netto-Abflüsse darstellen. Dies wird an den höheren Abflüssen ab dem zweiten Quartal deutlich, die bereits voll unter dem Eindruck des Krieges ab dem 24. Februar stehen.

Da auch Japan hohe Abflüsse verzeichnet, können ebenfalls niedrige Wachstumsaussichten in Folge einer ungünstigen demografischen Entwicklung sowie Investitionen zur Sicherung wichtiger Rohstoffe im Ausland eine Rolle spielen. Mit der ungünstigen demografischen Entwicklung eng in Verbindung steht der Fachkräftemangel. Dieser könnte auch eine Begründung für die Abflüsse darstellen. Dass der Standort dadurch leidet, wird gestützt durch eine aktuelle Umfrage im industriellen Mittelstand (BDI, 2023; Mehrfachnennung). 76 Prozent der Unternehmen gaben „Arbeitskosten inkl. Fachkräftemangel“ als die aktuell größte Herausforderung an. Dahinter folgen mit 62 Prozent die Preise für Energie und Rohstoffe.

Inwieweit der Inflation Reduction Act (IRA) der USA ebenfalls Auswirkungen hat, weil er Investitionen in den USA subventioniert, kann jedoch erst mit den Daten des Jahres 2023 näher analysiert werden. Damit in Verbindung steht auch der zunehmende Protektionismus als mögliche Erklärung: Durch zunehmende Handelshemmnisse sowie Subventionen werden Investitionen bei den Handelspartnern attraktiver.

Wo fließt das Kapital hin?  

Im Jahr 2022 ist das Kapital vor allem in den Euroraum geflossen (rund 60 Prozent; Deutsche Bundesbank, 2023). Rund zehn Prozent entfallen auf weitere EU-Staaten. Dabei wurde das Kapital insbesondere für Beteiligungen an Unternehmen (inkl. Neugründungen) genutzt. Auf Asien und die Amerikas entfielen je 14 Prozent. Die meisten Investitionsprojekte wurden 2022 dabei mit 209 in Frankreich verzeichnet (Vorjahr 201; EY, 2023, 14). Danach folgen das UK mit 61 (2021: 48) und die Türkei mit 51 Projekten (38). Die meisten neuen Arbeitsplätze wurden jedoch mit fast 7.000 in Polen angekündigt (ebenda). Auf Frankreich entfielen rund 6.000 und auf das UK rund 4.800 angekündigte neue Stellen.

Die meisten Investitionen in Deutschland 2022 stammen aus den USA (PwC, 2022; Deutsche Bundesbank, 2023; EY, 2023). Die Investitionen aus Europa sind jedoch dramatisch von 79 auf 13 Milliarden Euro eingebrochen (Deutsche Bundesbank, 2023). Die meisten Stellen (über 10.000) wurden von US-Unternehmen angekündigt, gefolgt von chinesischen Investoren mit rund 4.600 stellen (EY, 2023, 13).

Mit Abstand die höchsten Bestände an deutschen Direktinvestitionen verzeichnen die USA mit mehr als 400 Milliarden Euro vor Luxembourg, China und dem UK mit jeweils knapp mehr als 100 Milliarden Euro (Deutsche Bundesbank, 2023).

Fazit

Die stark gestiegenen Abflüsse an Investitionskapital aus Deutschland sind ein Warnsignal, dass der Standort an Attraktivität verliert. Diese Entwicklung kann mehrere mögliche Ursachen haben. Da zuletzt vor allem in Frankreich investiert wird und Investitionen aus Europa eingebrochen sind, liegt auch die Vermutung nahe, dass Energiepreise und Versorgungssicherheit eine Rolle spielen. Zudem stellt der Fachkräftemangel zunehmend eine Herausforderung für die Unternehmen dar.

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