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Zeige Bild in Lightbox Türkei-Präsident Recep Tayyip Erdoğan spricht in ein Mikrofon
Recep Tayyip Erdoğan beim G20-Gipfel in Rom. (© Getty Images)
Simon Gerards Iglesias IW-Nachricht 12. Mai 2023

Türkei-Wahlen: Der kranke Mann vom Bosporus

Als Erdoğan vor 20 Jahren an die Macht kam, war die Türkei eine aufstrebende Wirtschaftsmacht und stand für viele schon mit einem Bein in der EU. Diese Hoffnungen wurden enttäuscht: Die Türkei erlebt wirtschaftlich höchst turbulente Zeiten. Die kommenden Wahlen entscheiden, wie es mit dem Land weitergeht.

Als Recep Tayyip Erdoğan im März 2003 zum Ministerpräsidenten der Türkei gewählt wurde, galt er im Westen als Hoffnungsträger. Viele waren überzeugt, dass Erdoğan die Türkei in Richtung Westen rücken, die Wirtschaft ankurbeln und den Beitritt zur Europäischen Union vorantreiben werde. Die ersten Jahre gaben ihnen recht: Mit Wachstumsraten von bis zu elf Prozent und einer guten demografischen Entwicklung schien die Türkei auf dem besten Weg zu sein, in die Riege der großen Industriestaaten vorzustoßen. Nach zwei Jahrzehnten ist von solchem Enthusiasmus wenig übriggeblieben. 

Inflation und irrationale Geldpolitik

Viele der wirtschaftlichen Erfolge, die die Türkei sich in den vergangenen Jahrzehnten erarbeitet hatte, haben sich unter Erdoğan in Luft aufgelöst. 2022 verzeichnete das Land mit 72 Prozent eine der höchsten Inflationsraten der Welt – Zahlen, die typisch für Entwicklungsländer und „Failed States“ sind. Zwar ist die Inflation zuletzt zurückgegangen, mit derzeit 44 Prozent bewegt sie sich dennoch in astronomischen Höhen. Die Bevölkerung leidet unter den Teuerungen. Milch und Fleisch sind mittlerweile Luxusgüter, die Vermögen haben massiv an Wert verloren. Die Erdbebenkatastrophe im Osten des Landes Anfang des Jahres heizt die Inflation zusätzlich an.

Schuld ist die irrationale Geldpolitik Erdoğans. In der Türkei ist die Zentralbank nicht unabhängig, der Präsident hat freie Fahrt bei der Umsetzung seiner bizarren monetären Ideen. Während andere Notenbanken gegen Inflation die Zinsen erhöhen, soll in der Türkei eine Beibehaltung der expansiven Geldpolitik die Teuerung stoppen – denn die kurbelt den Export an, so das Kalkül. Das Problem: Die Exporte können nicht mit den immer teurer werdenden Importen Schritt halten. Das Ergebnis ist ein immer größerer Schuldenberg und ein Handelsbilanzdefizit von 90 Milliarden Dollar. 

Handel mit Russland und China zuletzt gewachsen

Konträr zur ökonomischen Verzwergung versucht Erdoğan die Türkei seit einigen Jahren als regionale Großmacht zu etablieren. Dabei positioniert die Türkei sich nach außen als strategisch neutral, sucht aber stets den eigenen Vorteil. Trotz NATO-Mitgliedschaft hat sich die Türkei noch nicht klar zum Krieg in der Ukraine positioniert. Die Entwicklung der Handelsbeziehungen zeichnet jedoch ein anderes Bild. Im vergangenen Jahr haben sich die Importe aus Russland um über 150 Prozent erhöht, die aus China um über 40 Prozent. Im Gegensatz dazu sind die Importe aus Deutschland um fünf Prozent zurückgegangen. Der Anteil der Waren aus der EU an den Importen verringerte sich seit dem Amtsantritt von Erdoğan um fast 20 Prozentpunkte. 

Wirtschaftlich hat sich die Türkei also vom Westen abgewendet. Zudem hatten es deutsche Unternehmen bei großen Wechselkursschwankungen und dem Auf und Ab der Konjunktur schwer, in das Land zu investieren. „Die Wahl könnte entscheiden, ob sich die Türkei aus dem wirtschaftlichen Tief befreien kann“, sagt IW-Forscher Simon Gerards. „Das geopolitische Gewicht, das die Türkei gewonnen hat, verdeckt derzeit den Blick auf die miserable ökonomische Lage im Land.“
 

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