Bis zum Jahr 2035 verliert Deutschland sieben Millionen Arbeitskräfte, weil viele Babyboomer in Rente gehen. Bereits heute fehlen vielerorts Fachkräfte. Profitieren könnten davon diejenigen, die einen Job haben, für den händeringend Personal gesucht wird. IW-Ökonomin Ruth Maria Schüler erklärt im Interview mit der ZEIT, weshalb manche Einkommen kaum steigen und was die 20 lukrativsten Jobs für junge Fachkräfte sind.
Fachkräftemangel: „Ausbildungsberufe sind oft lukrativer als Jobs für Akademiker”
In welchen Branchen ist der Fachkräftemangel am größten?
Am stärksten fehlen die Fachkräfte weiterhin in der Pflege, im Handwerk und der Logistik, doch wir können sehen, dass sich der Personalmangel immer weiter verstärkt. Seit der Pandemie sind auch die Gastronomie oder die Flugbranche betroffen, da werden noch viele Branchen folgen.
Für die Angestellten oder Auszubildenden in diesen Berufen könnte das eine gute Nachricht sein. Wenn das Personal knapp und begehrt ist, müssten ihre Löhne künftig stark steigen.
Wir haben genau dazu geforscht und können das tatsächlich nur eingeschränkt bestätigen. Gerade für Ausbildungsberufe konnten wir keinen Zusammenhang zwischen Löhnen und Personalengpässen zeigen.
Wie kommen Sie darauf?
Wir haben uns die Gehaltsdaten der Bundesagentur für Arbeit für alle sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten angeschaut. Wir untersuchten, wie die Löhne aller Berufe in den vergangenen Jahren gestiegen sind und ob wir einen Zusammenhang mit Personalengpässen erkennen können.
Gibt es den?
Nicht überall. Die Berufe, deren Gehalt in den vergangenen Jahren besonders stark gestiegen ist, sind kaum vom Fachkräftemangel betroffen. Besonders viel an Gehalt hinzugewonnen haben Zahnärztinnen, Handelskaufleute oder Podologen, also Fußpfleger. Das sind alles Berufe, in denen der Fachkräftemangel vergleichsweise niedrig ist.
„Berufe, deren Gehalt besonders stark gestiegen ist, sind kaum vom Fachkräftemangel betroffen.”
Also ist es für das Gehalt völlig egal, wie viele Fachkräfte es für den jeweiligen Beruf gibt?
Es kommt auf das Anforderungsniveau an, also darauf, welche Qualifikationen man für den jeweiligen Beruf braucht. In manchen Bereichen kann man erkennen, dass der Lohn steigt, weil es zu wenige Fachkräfte gibt. Doch das geschieht fast nur in sogenannten Expertenberufen. Also bei Jobs, für die man in der Regel studiert haben muss, wie zum Beispiel bei hochkomplexen Tätigkeiten im Hochbau oder in der Gebäudetechnik. In diesen Berufen mit hohem Engpass sind die Löhne stärker gestiegen als im Durchschnitt. Doch in anderen Bereichen haben sich die Einkommen kaum erhöht, obwohl auch dort dringend nach Personal gesucht wird.
Ich denke da an Jobs wie für Erzieherinnen oder Lackierer?
Zum Beispiel, ja. Das trifft im Schnitt auf fast alle Berufe zu, für die es eine Ausbildung, aber kein Studium braucht. Mit ein paar Ausnahmen sind in diesen Jobs die Gehälter nicht stark angestiegen, obwohl die Engpässe hier hoch sind.
Welche Berufe sind die Ausnahme?
In der Pflege sehen wir, dass die Löhne in den vergangenen Jahren gestiegen sind – allerdings von einem niedrigen Niveau ausgehend. Das durchschnittliche Gehalt für eine Pflegekraft lag 2013 bei gut 2.400 Euro brutto im Monat und ist bis 2019 auf gut 3.000 Euro gestiegen. Die Gehälter sind also prozentual stark angestiegen, bleiben aber dennoch auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau.
„Der Arbeitsmarkt funktioniert nicht wie die Börse.”
Warum ist es so, dass viele Gehälter in Ausbildungsberufen nicht stark steigen?
Der Arbeitsmarkt ist kein freier Markt und funktioniert nicht wie die Börse. Da ist es ja so: Wenn die Nachfrage steigt, steigen auch die Preise. Wenn also ein Produkt begehrt, aber selten ist, steigt sein Preis. Doch der Preis des Angestellten steigt nicht unbedingt, nur weil es wenig Personal gibt. Ein Grund dafür liegt bei den Angestellten selbst, denn diese müssten mobil sein, um darauf zu reagieren. Oft gäbe es die Möglichkeit, denselben Job in einem anderen Unternehmen, meist in einer anderen Region zu machen und mehr zu verdienen, doch umziehen will dafür kaum jemand. Und die Arbeitgebenden stehen in einem Wettbewerb oder müssen sich an institutionelle Vorgaben halten und haben deshalb oft gar nicht erst die Möglichkeit, die Gehälter entsprechend der Engpässe anzuheben.
Wie könnte man das ändern?
Eine Möglichkeit, die wir vorschlagen, wäre, dass bei Tariflöhnen Spielräume gelassen werden, sodass Unternehmen Menschen in Jobs mit Engpässen besser bezahlen können. Und es braucht mehr als das. Bessere Arbeitsbedingungen, das ist vor allem für jüngere Menschen entscheidend. Jobs müssen flexibel und vereinbar mit der Familie sein. Und es braucht auch mehr Wertschätzung für einige Berufe.
„Einige Ausbildungsberufe sind deutlich lukrativer als akademische Jobs.”
Trotzdem ist auch das Geld ein Faktor. Sie haben in einer weiteren Studie die 20 lukrativsten Jobs für Fachkräfte untersucht. Was kam dabei heraus?
Wir haben uns speziell Jobs angeschaut, für die man eine Ausbildung braucht und festgestellt, dass es dort auch Berufe gibt, die sehr gut bezahlt sind. Ein paar werden sogar deutlich besser entlohnt als Expertenberufe. Was uns überrascht hat, war, dass es dabei vor allem um Jobs geht, die viele junge Menschen gar nicht kennen. So wie der des technischen Produktionsplaners, der Luft- und Raumfahrttechnikerin, oder auch der Chemikerin in der Pharmaindustrie. Wer dort arbeitet, bekommt bereits in den ersten Berufsjahren deutlich mehr als 4.000 Euro brutto im Monat. Ähnlich gut verdient man in unbekannten Berufen wie dem Kraftwerkstechniker oder der sogenannten Hüttentechnikerin, die am Hochofen steht und überwacht, wie Metall verarbeitet wird.
Sie würden jungen Menschen also raten, Jobs wie diese zu ergreifen, wenn sie viel verdienen wollen?
Wer nicht unbedingt studieren will oder ohnehin schon einen konkreten Plan hat, sollte darüber nachdenken, ja. Ausbildungsberufe sind oft lukrativer als Jobs für Akademiker – wenn man sich für den richtigen entscheidet.
Zum Interview auf zeit.de
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