Die EZB laufe Gefahr, die Zinssenkungen zu stark hinauszuzögern, sodass sie das Wachstum gefährdet, meint IW-Direktor Michael Hüther im Interview der Börsen-Zeitung. Zudem äußert er Kritik an der Wirtschaftspolitik der Ampel-Regierung.
„In Deutschland besteht die Gefahr eines negativen Investitionsschocks”
Herr Hüther, was ist aus Ihrer Sicht die überraschendste Nachricht, die von der geldpolitischen Sitzung der EZB ausging?
Es gab keine Überraschung. Denn die Fortsetzung der Zinspause war zu Recht erwartet worden, während die Einschätzung baldiger Zinsschritte nach aller EZB-Kommunikation unplausibel war. Insofern hatte die EZB die Märkte gut vorbereitet, auch wenn diese darauf mit Abschlägen reagierten.
Für wann rechnen Sie mit einer ersten Zinssenkung der EZB?
Nach der bisherigen Kommunikation und angesichts der zuletzt leicht negativen Inflationsentwicklung ist voraussichtlich im September eine erstmalige Zinssenkung auf 4,25% zu erwarten, gefolgt von einer weiteren Reduzierung um 0,25 Prozentpunkte gegen Jahresende 2024.
Wie hoch ist aus Ihrer Sicht die Gefahr, dass die EZB zu spät die Zinsen senkt?
Schon jetzt sehen wir schwache Wachstumsimpulse in der gesamten Eurozone. Die derzeitige Inflation von knapp 3% ist maßgeblich getrieben von Energiepreisen in Deutschland, die Kerninflation ist schon fast wieder auf dem Niveau des ersten Quartals 2022. Die EZB hat 2022 zu spät die Zinsen erhöht und läuft jetzt Gefahr, die Zinssenkungen zu stark hinauszuzögern, sodass sie das Wachstum gefährdet. Die bisherigen Zinsschritte sind noch gar nicht vollends in der Realwirtschaft angekommen.
Wie wird sich die Euro-Inflation 2024 entwickeln?
Die Prognose deutet darauf hin, dass die Inflation im Jahresdurchschnitt bei etwa 2,2% (Consensus) liegen wird. Zudem wird erwartet, dass die Kerninflation weiter abnimmt, auch wenn sie nach wie vor knapp über der Headline-Inflation verharren wird. Die EZB geht von einer höheren Inflation aus, weswegen sie zögerlicher ist bei den Zinsschritten.
Was ist derzeit das größte Aufwärtsrisiko für die Inflation?
In Deutschland könnten die Ausgaben für Energie wieder steigen, weil die Entlastungsmaßnahmen durch die veränderte Haushaltslage teilweise zurückgenommen werden müssen. Auch besteht weltweit weiterhin Unsicherheit in der Entwicklung von Energiemärkten, die äußerst sensibel auf geopolitische Konflikte reagieren.
Kann die Eurozone eine Rezession in diesem Jahr vermeiden?
Zum jetzigen Zeitpunkt wird es nur ein leicht positives Wachstum von 0,5% in der Eurozone geben, dennoch besteht ein Restrisiko durch Zinsentscheidungen, volatile Energiemärkte und drohende geopolitische Konflikte. Auch scheinbare Nebenschauplätze wie der Beschuss von Handelsschiffen im Roten Meer können die europäischen Volkswirtschaften empfindlich stören. Die Logistikketten erweisen sich als außerordentlich fragil. Hinzu kommen hausgemachte Probleme, wie in Deutschland durch eine Politik, die den Investoren keine verlässliche Erwartungsbildung ermöglicht.
Wie schätzen Sie die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands ein?
In diesem Jahr erwarten wir einen ähnlichen BIP-Rückgang wie im Jahr 2023, d.h. eine gesamtwirtschaftliche Schrumpfung von knapp einem halben Prozent. Die Probleme sind vor allem hausgemacht und gefährden die wirtschaftspolitische Konsistenz. Durch die veränderte Haushaltslage infolge des Bundesverfassungsgerichtsurteils besteht die Gefahr eines negativen Investitionsschocks, der sich auch auf private Investitionen ausdehnen wird. In das Jahr 2024 werden wir im ersten Quartal mit einer Schrumpfung starten, die Indikatoren für die weitere Entwicklung sind im Sinkflug.
Zum Interview auf boersen-zeitung.de
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