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(© Foto: Daniel Roth)
Hagen Lesch in der Stuttgarter Zeitung Interview 12. Februar 2015

"Die Stimmung in der Bevölkerung dreht sich"

Hagen Lesch, Tarifexperte im Institut der deutschen Wirtschaft Köln, zählt im Interview mit der Stuttgarter Zeitung die Bundesrepublik weiterhin zu den Ländern mit geringerer Streikintensität.

Herr Lesch, jahrelang hieß es, in puncto Streikintensität hinke Deutschland in Europa hinterher. Gilt das überhaupt noch?

Wir vergleichen immer die Zahl der durch Streiks ausgefallenen Arbeitstage - da gehört Deutschland zu den Ländern, die am wenigsten streiken. Dies gilt nach wie vor. Gemessen an den Ausfalltagen gehören wir zu den friedliebenderen Ländern. In Frankreich, Italien oder Spanien fallen mehr Tage aus. Allerdings handelt es sich dort großteils um politische Streiks gegen Reformpläne. Bei uns sind es tarifpolitische Streiks - auch im Verkehrsbereich, wo sie besonders spürbar sind. In der öffentlichen Daseinsvorsorge wird in der Tat vermehrt gestreikt statt wie früher in der Industrie. Seit 2006 stellen wir 50 bis 80 Prozent der Ausfalltage im Dienstleistungssektor fest.

Somit ist die Streikzunahme mehr als nur gefühlt?

Man müsste auf die Zahl der Streiks schauen, weil kleine Gewerkschaften wie die Vorfeldlotsen mit ganz wenigen Leuten eine große Unordnung anrichten. Die Zahl der Streiks wird in Deutschland nicht erhoben, sodass man sie nicht vergleichen kann.

In der Bevölkerung ist das Verständnis weiter hoch?

Streik gehört für sie als Kampfmittel zur Tarifautonomie. Es ist aber bemerkenswert, dass wir im November eine Emnid-Umfrage hatten, in der sich eine Mehrheit skeptisch zum Lokführerstreik äußerte. Infolge des Pingpong-Streiks von Piloten und Lokführern dreht sich die Stimmung der Bevölkerung.

Handelt es sich also in erster Linie um ein Problem für die Lufthansa und die Deutsche Bahn?

Wo wir rivalisierende Gewerkschaften haben, gibt es eine Aufsummierung von Konfliktrisiken. Dies beobachten wir in der Luftfahrt, in der Flugsicherung, bei der Bahn - aber auch in den Krankenhäusern. Dieses Jahr ist der Tarifkonflikt mit dem Marburger Bund allerdings ganz geräuschlos abgelaufen.

Die DGB-Gewerkschaften versuchen mitzuhalten, weil die Entwicklung zu ihren Lasten geht?

Ganz genau. Nicht nur die Spartengewerkschaften verhandeln aggressiver, sondern auch die großen Organisationen. Verdi greift sich bestimmte streikstarke Gruppen heraus, die man sozusagen als Speerspitze benutzt - aber anders als früher. Diese Gruppen holen nicht mehr solidarisch für alle, sondern vor allem für sich eine höhere Prozentzahl heraus - wie gerade beim Sicherheitsgewerbe erkennbar ist oder demnächst bei den Erzieherinnen. Verdi verhält sich immer mehr wie eine Spartengewerkschaft.

Hätten Sie gerne die DGB-Gewerkschaften als alleinige Verhandlungspartner zurück?

Ich habe nichts gegen Spartengewerkschaften. Entscheidend ist, dass die Gewerkschaften miteinander kooperieren, statt für ihre Klientel zu Lasten anderer Gruppen mehr herauszuholen.

Was kann das Gesetz zur Tarifeinheit da bewirken?

Es erhöht den Kooperationsanreiz für kleine Gewerkschaften, um nicht von der Mehrheitsgewerkschaft verdrängt zu werden. Aber auch die großen Organisationen haben diesen Anreiz, denn sonst laufen sie Gefahr, dass die Mitglieder abwandern, wenn die Großen überzeugende Vorschläge der Kleinen einfach übergehen.

Aber vor dem Verfassungsgericht dürfte es scheitern?

Ich bin kein Jurist, doch ist das Gesetz aus meiner Sicht verfassungskonform. Die Koalitionsfreiheit darf nicht über das Gemeinwohlinteresse gestellt werden. Gerade in der Daseinsvorsorge wird dieses Interesse in der Rechtsprechung nicht ausreichend geschützt. Ich sehe den Gesetzgeber in der Verantwortung, dass eine Mindestinfrastruktur erhalten bleibt. Da kann man in gewissen Fällen in Kauf nehmen, wenn einer kleineren Gewerkschaft vorübergehend ein Streik untersagt wird.

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