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IW-Wirtschaftsethiker Dominik Enste
Dominik Enste auf stern.de Interview 3. November 2020

„Der Schutz des Lebens, koste es, was es wolle, ist weder sinnvoll noch möglich“

Der Teil-Lockdown im November wird von vielen Experten begrüßt. IW-Wirtschaftsethiker Dominik Enste hält die Maßnahmen dagegen für problematisch. Im Interview mit dem Stern erklärt er, warum er pauschale Verbote für falsch hält und welche Alternativen er bevorzugt.

Herr Enste, warum halten Sie den Teil-Lockdown in Deutschland für nicht verhältnismäßig?

Keine Frage – es sind Schutzmaßnahmen erforderlich, um die Pandemie einzudämmen. Aber der Schutz des Lebens, koste es, was wolle, ist weder sinnvoll noch möglich. Bei allen Entscheidungen müssen Menschen immer sorgfältig verschiedene Werte gegeneinander abwägen. Dabei gibt es immer wieder Dilemmata. So wägt jeder Fahrradfahrer ab, ob er mit Helm oder aus Bequemlichkeit lieber ohne fährt. In Städten gilt nicht flächendeckend Schrittgeschwindigkeit, sondern nur in Spielstraßen, um den Verkehrsfluss und das wirtschaftliche Leben nicht zu sehr einzuschränken – der Schutz des Lebens wird auch hier gegen andere Werte abgewogen. 

Angesichts der Pandemie gilt es, in gleicher Weise abzuwägen, wieweit in andere Werte wie die wirtschaftliche Freiheit eingegriffen werden darf. Dem steht auch nicht der Artikel 1 des Grundgesetzes entgegen: Dort ist die Würde des Menschen geschützt, die mehr umfasst als den Schutz vor einer Infektion durch ein Virus.

Eine Einschränkung von Freiheiten ohne klare Faktenbasis, die nach sieben Monaten verfügbar sein könnte, wenn mehr Geld auch in die Forschung gesteckt worden wäre, wird in einigen Fällen vermutlich auch von Gerichten aufgehoben werden. Hotels, Gaststätten, Freizeiteinrichtungen etc., die viel Geld in eine Verbesserung des Hygieneschutz investiert haben, neue Lüftungssysteme eingebaut, Schutzwände installiert haben, werden jetzt mit bestraft für jene Clubs und Einrichtungen, die sich nicht an die Regeln gehalten haben. Hier ist eine Kontrolle und Bestrafung von Fehlverhalten wichtiger als pauschale Verordnungen.

Was hätten Sie sich stattdessen für Maßnahmen gewünscht?

Notwendig ist zunächst eine Faktenbasierung: Wo steckt sich wer wie wodurch an? Mit wenigen Millionen Euro hätte hier eine solide Datenbasis geschaffen werden können oder muss nun geschaffen werden. Notwendig ist eine klare Strategie über den November hinaus. Meine Vermutung ist, dass wir bis Mitte Dezember die Einschränkungen beibehalten, Weihnachten die Familien besuchen dürfen und dann von Mitte Januar bis Mitte März der nächste "Lockdown light" gilt.

Diese Einschränkungen in Verbindung mit Milliarden-Schäden und -Kosten wären teilweise vermeidbar. Denn es ist fahrlässig, dass Gesundheitsämter und Ordnungsämter nicht in den letzten sieben Monaten aus anderen Behörden aufgestockt wurden, die zurzeit weniger zu tun haben – zum Beispiel braucht zurzeit niemand einen Reisepass – um massive Einschränkungen für die Menschen zu vermeiden. Ausbau der Kapazitäten und Weiterbildung des Pflegepersonals im Bereich Intensivmedizin als Prävention für den nun eintretenden "Worst Case" statt erneut das soziale Leben lahmzulegen.

Leider scheint hier das Problem zu sein, dass man lieber auf die "bewährten" Maßnahmen setzt, statt innovative Lösungen auszuprobieren. Der Staat muss sich besser rüsten und ausrüsten – Testkapazitäten ausbauen und zu einer differenzierten Maßnahmenabwägung kommen. Der Anreiz dafür auf Seiten der Politik ist natürlich gering, solange die Menschen das mehrheitlich in dieser Form mittragen. Wenn die Kosten in Form von massiven Steuererhöhungen, Jobverlusten und Wohlstandseinbußen ersichtlich werden, wird sich dies jedoch ändern.

Notwendig ist ein professionelles Risikomanagement mit dem zentralen Ziel, die Würde des Menschen zu schützen sowie soziale und wirtschaftliche Interessen so gut wie möglich miteinander in Einklang zu bringen. Einerseits sind vermeidbare Todesfälle und eine Überlastung der Gesundheitssysteme zu verhindern, andererseits sind die dauerhaften Kollateralschäden der Krise so gering wie möglich zu halten. Dies setzt voraus, dass Politiker solche Abwägungen von Kosten und Nutzen auf abstrakter, gesellschaftlicher Ebene durchführen, um auf der individualethischen Ebene zum Beispiel für Ärzte genau dies zu vermeiden.

Was spricht aus wirtschaftsethischer Sicht gegen flächendeckende Lockdowns?

Während aufgrund der unsicheren Situation zu Beginn des Jahres pauschale und umfassende Maßnahmen aus wirtschaftsethischer Sicht notwendig waren, muss sieben Monate später mit differenzierten, lokalen und verhältnismäßigen Eingriffen das Infektionsgeschehen eingedämmt werden. Gerichtsentscheidungen haben hier bereits gezeigt, dass nur solche Maßnahmen Bestand hatten, die treffsicher die Ursachen der Pandemie bekämpfen. Pauschale Schließungen von Hotels, Restaurants, Geschäften, Sportanlagen oder Freizeiteinrichtungen, die bisher nicht als Infektionstreiber aufgefallen sind und ein systematisches Hygienekonzept haben und einhalten, sind unverhältnismäßig.

Aus wirtschaftsethischer Sicht ist es auch für die dauerhafte Akzeptanz der Staatseingriffe notwendig, vor allem die Hotspots wie private Feiern ohne Einhaltung der AHA-Regelungen zu unterbinden und zu bestrafen. Um ein Beispiel zu nennen: Tennissport ist zu zweit mit großem Abstand möglich, dennoch dürfen Tennishallen nicht geöffnet bleiben – warum? Zoologische Gärten draußen bieten Abwechslung für Kinder und wenig Probleme aufgrund der guten "Lüftung". Wir werden hier differenzieren müssen, um die grundsätzliche Akzeptanz der Maßnahmen nicht zu gefährden.

Welche der deutschen Lockdown-Maßnahmen kritisieren Sie besonders, welche sehen Sie positiv?

Kernproblem ist für mich, dass der "Ehrliche der Dumme ist". Wir brauchen Lösungen, die für Bereiche, wo Hygieneschutz vorbildlich umgesetzt wird, Ausnahmeregelungen ermöglichen. Die Maßnahmen sollten zudem auf einer breiteren Datenbasis als nur der 7-Tage-Inzidenz getroffen werden und in ein Ampelsystem einfließen. Wir brauchen eine Ausweitung von (Schnell-)Tests und eine stärkere Berücksichtigung auch anderer Folgen bei den Maßnahmen.

Neben den makroökonomischen Schäden und den Konsequenzen bis hin zu etlichen Unternehmensinsolvenzen in besonders betroffenen Branchen sind auch die sozialpsychologischen Folgen eines Lockdowns zu beachten. Dazu gehören beispielsweise eine Zunahme von häuslicher Gewalt, Depressionen oder Suizidalität – ausgelöst durch Isolation und Existenzängste. Die Politik muss diese Folgen bei allen Entscheidungen zur Eindämmung der Pandemie beachten – gerade im November/ Dezember, wo wir eine deutliche Zunahme von Depressivität auch ohne Corona erleben.

Positiv ist, dass sehr klar kommuniziert wird, regelmäßig die Öffentlichkeit informiert wird und zumindest im Nachgang der Entscheidung eine Debatte im Bundestag stattfindet. Die Gewaltenteilung funktioniert und auch die Medien schaffen zudem mehr Raum auch für kritische Kommentare.

Sie haben das Krisen-Management in Deutschland, Schweden und Südkorea analysiert und verglichen – wer schneidet am besten ab und warum?

Die jeweiligen Länder haben unterschiedliche Strategien gewählt. Schweden setzt sehr auf die Eigenverantwortung und hat hohes Vertrauen in die Menschen – und sorgt so sehr wohl für Kontaktbeschränkungen und konzentriert sich mittlerweile auf die Eindämmung vor allem bei Risikogruppen. Südkorea hat sehr viel stärker mit Überwachung, Kontrolle und strengen Strafen agiert und das Virus relativ gut in den Griff bekommen. In Deutschland hat sich vor allem bewährt – zumindest zeitweise – auf regional konzentrierte Maßnahmen zu setzen, auf ein sehr gutes Gesundheitssystem vertrauen zu können und insgesamt auf eine sehr große Zahl von Menschen vertrauen zu können, die sich an die Maßnahmen auch freiwillig und ohne Kontrolle gehalten haben und halten.

Wichtig ist, den Blick auch auf diese Gruppen zu lenken, die sich vorbildlich verhalten und so Mut zu machen, dass die Pandemie schrittweise bekämpft werden kann und sie sich nicht unkontrolliert ausbreitet. Dafür ist es meines Erachtens notwendig, viel mehr auf Vertrauen zu setzen und gleichzeitig Regelverstöße sehr eindeutig zu verfolgen und zu bestrafen. Sonst droht ein "Slippery Slope", das heißt, auf die Dauer werden Maßnahmen immer weniger beachtet und eingehalten, weil ein Gewöhnungseffekt an Verbote einsetzt, insbesondere wenn diese nicht kontrolliert werden. Mehr auf Gebote zu setzen, wie AHA-Regeln plus Lüften und nutzen der App ist aus verhaltensethischer Sicht nachweislich dauerhaft erfolgreicher als mit Verboten zu agieren.

Zum Interview auf stern.de

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