In Zeiten höchster geopolitischer Unsicherheiten kann nur eine flexible Finanzpolitik das Schlimmste verhindern, analysiert IW-Direktor Michael Hüther in einem Gastbeitrag für das Handelsblatt.
Wird Stagflation die nächsten Jahre prägen?
Es gibt keine Ordnungspolitik für den Fall einer äußeren Bedrohung. Es gilt der Primat der Politik. Dennoch muss Wirtschaftspolitik mit den Herausforderungen systematisch umgehen. Das verlangt vor allem Wirksamkeit, Zielgenauigkeit und Flexibilität; in der Ungewissheit kann kaum auf Erfahrungswerte gesetzt werden. Prinzipiell sollten keine Optionen ausgeschlossen werden, die Handlungsspielräume schaffen, auch wenn sie bisherigen Festlegungen widersprechen. Jede Maßnahme, die dazu geeignet scheint, muss nicht tatsächlich zum Tragen kommen - sie fungiert vielmehr als eine Art Versicherungsschutz gegen Unvorhergesehenes.
Wohin die Entwicklung führt, die mit dem völkerrechtswidrigen Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar begann, ist nur in Umrissen zu erkennen. Anders als in der Pandemie, bei der wir auf Normalität für die Zeit danach hoffen konnten, wird diesmal die Welt in einer wie auch immer gearteten Konstellation eine andere sein. Weil niemand weiß, wie lange der Konflikt dauern wird, finden die Unternehmen keine Anhaltspunkte dafür, wie lange der Angebotsschock wirkt und wie stark er womöglich noch eskalieren wird. Unklar sind auch die volkswirtschaftlichen und weltwirtschaftlichen Folgen.
Ausgehend von einem historisch hohen Auftragsbestand und der Aussicht auf eine konjunkturelle Stärkung im Jahresverlauf 2022 erleben Unternehmen nun einen mehrfachen Kostenschock. Die Energiepreise schwanken auf Höchstständen. Kritische Rohstoffe, einige davon aus Russland, werden zu ungeahnten Preisen angeboten, wobei unklar ist, ob die gewünschten Mengen überhaupt in der gewünschten Zeit verfügbar sein können. Bei der kurzfristigen Suche nach alternativen Quellen kann sich das Lieferkettengesetz als Hemmnis erweisen.
In der Ukraine errichtete Kapazitäten arbeitsintensiver Produktion, beispielsweise Kabelbäume für die Automobilindustrie, liegen brach; die Lieferketten sind gestört, teilweise unterbrochen. Gestörte (Eisenbahn, Lkw) und überlastete (Containerschifffahrt, Flugfracht) Logistiksysteme verschärfen die Probleme, indem die Verfügbarkeitsrisiken auf viele international gehandelte Zwischenprodukte ausgeweitet werden. Zusammengenommen ist ein breiter Produktionseinbruch vorstellbar, mit einem Ausmaß wie im Pandemie-Lockdown 2020, aber vermutlich länger andauernd.
Es droht ein Stillstand der arbeitsteiligen Automobilindustrie, was auf die Volkswirtschaft als Ganzes ausstrahlt. Schon jetzt geht es für die Unternehmen darum, Liquidität zu sichern und zu managen, was zu einem Verschieben kurzfristig flexibler Ausgaben, vor allem Investitionen, führen kann. Die Beschäftigung dürfte ebenfalls leiden; das Kurzarbeitergeld könnte erneut ein wichtiges Instrument zur Abfederung der Krise sein. In der Folge büßen die privaten Haushalte wie schon in der Pandemie an Einkommen ein, die mittelfristigen Erwartungen verschlechtern sich.
Der private Konsum würde indes nicht nur durch Einkommensverluste belastet, sondern auch durch die Kaufkrafteffekte der schon jetzt sichtbaren Teuerung. So droht zusätzlich zu dem Angebotsschock eine Krise der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. Was als konjunktureller Einbruch bis hin zur Rezession in diesem Jahr beginnen dürfte, kann sich zu einer dauerhaften Belastung der Wachstumsdynamik aller europäischen Industrieökonomien verschärfen. In einer Phase, in der diese schon zeitgleich durch den Umbau zur Klimaneutralität, die digitale Transformation und die voranschreitende demografische Alterung massiv gefordert sind, droht jetzt zusätzlich eine fundamentale geopolitische und geoökonomische Ungewissheit.
Stagflation könnte das Signum der nächsten Jahre werden. So wie die Bundesregierung einen Kurswechsel in der Außen- und Sicherheitspolitik vollzogen hat, der in vermeintlich sicheren Zeiten liebevoll gehegte ideologische Positionen des Mitte-links-Spektrums annullierte, so müssen auch andere Politikbereiche unter den Revisionsvorbehalt der Realität gestellt werden. Die Finanzpolitik ist in diesem Krisenmanagement ganz besonders gefordert.
Das beginnt mit der Finanzierung der dauerhaft höheren Verteidigungsausgaben. Das geplante Sondervermögen für die Bundeswehr erleichtert die Beschaffung, allerdings durch Umgehung der Schuldenbremse. Der gebetsmühlenartig vorgetragene Satz, ansonsten gelte die Schuldenbremse, überzeugt nun noch weniger als zuvor. Zwar sollen alle Einsparpotenziale mobilisiert werden, die aber werden kaum ausreichen, die beschlossenen Investitionen oder eigentlich gebotene Steuersenkungen zu finanzieren.
Um die privaten Investitionen am Standort Deutschland für den Strukturwandel zu stärken, muss dieser steuerpolitisch jedoch wieder wettbewerbsfähig werden. Die Abschaffung des Solidaritätszuschlags, zur Unternehmensteuer reduziert, wäre ein Baustein. Die Anpassung des Rechnungszinses für Pensionsrückstellungen in der Steuerbilanz, der seit 1982 bei sechs Prozent liegt, an den für die Unternehmen maßgeblichen in der Handelsbilanz, derzeit 1,69 Prozent, würde zudem deutlich entlasten. Hilfreich wäre überdies ein direkt wirksamer, unbegrenzter Verlustrücktrag, der die laufenden Vorauszahlungen in der Einkommensteuer und in der Körperschaftsteuer mindert.
Eine automatische Anpassung des Einkommensteuertarifs an die Inflation würde private Haushalte und Personengesellschaften gleichermaßen vor der kalten Progression schützen. Das wird in Zeiten der Stagflation umso wichtiger; eine solche Indexierung wirkte - anders als fallweise und beliebige Kompensationen - wie ein verlässliches Versprechen. Kurzfristig muss den Haushalten mit geringeren Einkommen geholfen werden, mit den hohen Benzinkosten zurechtzukommen. Hier wären Zuschüsse - analog zum Heizkostenzuschuss - zielgenauer als Rabatte an der Tankstelle, die alle Autofahrer entlasten und bürokratisch aufwendig sind.
Die Finanzpolitik ist auch deshalb so stark gefordert, weil sich in der Energiepolitik Pfadabhängigkeiten besonders auswirken. Die Beschlüsse zum Ausstieg aus der Erzeugung von Kernenergie und der Kohleverstromung machen in der Übergangsphase bis zur umfassenden Bedarfsabdeckung durch erneuerbare Energien Gas zur zentralen Primärenergiequelle. Da zumindest kurzfristig die Angebotsflexibilität bei Gas wegen der Abhängigkeit von der bestehenden Infrastruktur gering ist, konzentrieren sich die Bemühungen, von russischen Importen unabhängig zu werden, auf Steinkohle und Rohöl. Das kann bis zum Jahresende gelingen, wird aber in jedem Fall sehr teurer.
Um energieintensive Unternehmen, die vereinzelt schon angesichts der hohen Energiekosten die Produktion stillgelegt haben, nicht zu verlieren, besteht Handlungsbedarf. Eine Lösung bestünde darin, die Idee der Klimaschutzverträge auf die aktuelle Situation zu übertragen. Man könnte den betroffenen Unternehmen durch finanzielle Unterstützung Anpassungswege eröffnen, die deren Existenz sichern und zugleich in die Klimaneutralität führen. Das ist mit Blick auf die Arbeitsplätze allemal geboten. Aber auch dafür benötigen wir eine neue Flexibilität der Finanzpolitik. Es gehört alles auf den Prüfstand.
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