Der Staat muss die Wirtschaft mit Klimahilfen und Steuerentlastungen ankurbeln, schreibt IW-Direktor Michael Hüther in einem Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Was tun gegen die Stagflation?
Am 26. Oktober titelte die F.A.Z.: „Deutschland steht vor der Stagflation“. Die warnenden Stimmen vor einem wirtschaftlichen Abschwung bei gleichzeitiger Inflation nehmen angesichts ungewohnt hoher Preissteigerungen zu. Die Stagflation, die mit dieser Kombination gemeint ist, ist indes kein kurzfristiges Phänomen. Sie spiegelt eine länger anhaltende Stockung des Wachstums bei einem ebenso anhaltenden Inflationsdruck wider. In den 1970er-Jahren resultierte dies aus einem Vorlauf höherer Inflationsraten, der Überraschungsinflation durch die Ölverknappung 1973 und einer Überforderung der Unternehmen im beschleunigten Strukturwandel im Zeichen der Automatisation.
Einiges unterscheidet die Situation damals von der Lage heute. Die damals expansive Lohn- und Finanzpolitik entsprach nicht der Konjunktur, während sich die Notenbanken nach dem Ende des Weltwährungssystems von Bretton Woods erst Reputation im Kampf gegen die Inflationsgewöhnung erarbeiten mussten. Die Einsicht, dass ein Preisverfall keine Probleme löst, sondern allenfalls vertagt, setzte sich erst später durch. Die Liberalisierung des internationalen Kapitalverkehrs begann ebenso wie die Ära der beschleunigten Globalisierung erst nach 1980. Damit einher gingen neue Wachstumsmöglichkeiten, und aus Kostenvorteilen sowie Marktintegration in wettbewerblichen Märkten ergaben sich anhaltend Preisvorteile für die Konsumenten.
Wie ist es heute? Nehmen wir zuerst die Gründe für steigende Preise in den Blick. Die aktuellen Probleme in den Lieferketten und Logistiksystemen werden sich absehbar auflösen. Dauerhaft aber können zwei Treiber die Inflationserwartungen verändern: der steigende CO2-Preis sowie steigende Kosten der internationalen Arbeitsteilung durch Protektionismus, Lohndruck in Schwellenländern, trendmäßig steigende Rohstoffpreise und Investitionen in Cybersecurity. Allein der CO2-Preiseffekt kann bis 2025 die Inflationsrate in Deutschland um bis zu 0,5 Prozentpunkte jährlich erhöhen. Ähnlich dürfte es in der Eurozone insgesamt sein.
Diese Faktoren entziehen sich der Kontrolle der Notenbank. Das Stillhalten der EZB ist so lange angemessen, wie die Lohnpolitik keine Überwälzung organisiert oder aus anderen Gründen die Lohnstückkosten nach oben treibt. Das mag sich durch die Alterung der Bevölkerung und den Fachkräftemangel ergeben, der zunehmend Knappheitsprämien auf dem Arbeitsmarkt verursacht. Gleichzeitig beobachten wir, dass sich die gestärkte Position der Beschäftigten nicht automatisch im Barlohn niederschlägt, sondern etwa in mehr Zeitsouveränität. Künftig könnten die Beschäftigten die Sicherheit ihrer Arbeitsplätze zudem stärker gewichten als höhere Lohnabschlüsse. So oder so: Die Lohnpolitik sollte auf die Realeinkommenseffekte der CO2-Bepreisung nicht reagieren, würde sie doch andernfalls die Kosten der Unternehmen auf dem Weg zur Klimaneutralität steigern und die Anpassung so erschweren.
Wie aber steht es aktuell um die Voraussetzungen für die wirtschaftliche Entwicklung? Die Dynamik der Weltwirtschaft stärkte bislang über höhere Unternehmenserträge die Investitionen und stützte das Wachstum. Dass die Investitionen in neue Anlagen trotzdem noch gering sind, kann man als vorübergehende Folge der Corona-Pandemie bewerten. Der zentrale Unterschied zu den 1970er-Jahren ist jedoch die demographische Entwicklung. Die Alterung der Gesellschaft schwächt die Produktivität und kostet Wachstum, im Trend einen halben Prozentpunkt im Jahr. Die Produktivitätseffekte effizienter globaler Wertschöpfungsketten wiederum sind angesichts stagnierender globaler Integration erschöpft.
Der Umbau der Wirtschaft zur Klimaneutralität wird gewaltige Investitionen erfordern, von denen nur dann ein Wachstumsimpuls ausgehen kann, wenn die Rahmenbedingungen verlässlich, stimmig und global orchestriert sind. Zudem vollzieht sich die digitale Transformation der Geschäftsmodelle nicht reibungslos. Mehr als die Hälfte der Unternehmen sehen Hemmnisse, weil sie den Nutzen dieser Transformation nicht erkennen und weil Fachkräfte fehlen. Ähnlich wie einst die Automatisation droht nun die Digitalisierung besonders für kleine und mittlere Firmen zu einer Überforderung zu werden.
Aus dieser Melange von höheren Inflationsrisiken und potentiell schwächerem Wachstum kann bei allen Unterschieden zwischen den 1970ern und heute tatsächlich wieder eine Stagflation resultieren. Umso mehr würde das gelten, wenn die Notenbank eine Preis-Lohn-Preis-Spirale bekämpfen müsste. Deshalb braucht es, wie in den 1970er Jahren, ein geordnetes Miteinander der makropolitischen Akteure. Damit Geldpolitik und Lohnpolitik trotz veränderter Inflationsaussichten neutral bleiben können, muss die Finanzpolitik ihrer grundsätzlich neuen Verantwortung gerecht werden.
Sie muss einerseits die Stimulierung privater Investitionen für ein stärkeres Wachstum in den Mittelpunkt rücken. Das verlangt steuerpolitische Impulse wie Superabschreibungen mit einem über den Anschaffungskosten liegenden Abschreibungswert sowie die Abschaffung des zur Unternehmenssondersteuer gewordenen Rest-Soli, dazu schnellere Planungs- und Genehmigungsverfahren und eine angemessene Infrastruktur. Dafür sind hohe staatliche Ausgaben nötig. Schuldenbremsenkonform lassen diese sich durch Investitionsgesellschaften oder einen rechtlich selbständigen Fonds über Kredite finanzieren. Es geht dabei um eine Renaissance der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik mit verlässlichen Bedingungen.
Andererseits muss die Finanzpolitik die Verteilungsfolgen der Klimapolitik ernst nehmen. Einkommensschwache private Haushalte können über das Wohngeld und ein Mobilitätsgeld unterstützt werden. Dass kein Haushalt durch die Effekte der CO2-Bepreisung in die Grundsicherung rutscht, wäre eine plausible Schwelle für sozialpolitische Eingriffe. So ließe sich zudem die Lohnpolitik entlasten. Zusammen mit der Wachstumsstrategie öffnet das der Geldpolitik den Freiraum, nicht restriktiv werden zu müssen.
Das veritable Risiko einer Stagflation in den kommenden Jahren ruft nach einem makroökonomischen Politikdesign, das lange obsolet erschien. Der Konflikt zwischen Lohnpolitik und Geldpolitik schien endgültig aufgelöst: Sinkende Arbeitslosigkeit führte nicht mehr zu einem Anstieg der Lohnstückkosten. Das kann sich nun ändern. Daher ist nun die Finanzpolitik gefordert, bei ihr liegt der Schlüssel. Den investitionspolitischen Spielraum dazu hat sie, solange das Zinsniveau für langlaufende Bundesanleihen unter dem Trend der gesamtwirtschaftlichen Dynamik liegt.
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