Der deutsche Leistungsbilanzüberschuss ist weiter gestiegen, die EU-Kommission ist darüber not amused. Dabei zeigt sich bei realwirtschaftlicher Betrachtung, dass der Überschuss deutlich weniger groß ausfällt als angenommen.

Kritik an deutschen Exportüberschüssen ist unfair
Der deutsche Leistungsbilanzüberschuss ist bei einigen europäischen Partnern immer wieder Stein des Anstoßes. Kern der Kritik: Deutschland exportiert zu viel und importiert zu wenig. Seit nunmehr zehn Jahren ist dies bereits so. Jetzt bekommt die Kritik wieder neues Feuer, der Überschuss ist im vergangenen Jahr weiter gestiegen – nach Angaben der EU-Kommission auf 8,5 Prozent der Wirtschaftsleistung. Im Jahr 2012 war der Leistungsbilanzüberschuss mit 7 Prozent noch wesentlich niedriger.
Damit hat Deutschland zuletzt die "Warnschwelle" der EU-Kommission von sechs Prozent empfindlich überschritten. Dabei ist der Anstieg des Überschusses vor allem deshalb erstaunlich, weil die wirtschaftliche Dynamik hierzulande sowie die niedrige Arbeitslosigkeit den Import eigentlich weiter beflügelt haben sollten. Zudem hat eine schwächere globale Konjunktur die starken deutschen Exporte gebremst.
Jetzt fordern die EU-Kommission und Deutschlands europäische Konkurrenten mal wieder Reformen: Unter anderem soll Deutschland seine Binnen- und damit auch seine Importnachfrage stärken, vor allem durch mehr öffentliche Infrastruktur-Investitionen, bessere Rahmenbedingungen für private Investitionen und Reformen im Dienstleistungssektor.
All diese Forderungen aus Brüssel sind verständlich, doch übersehen sie einen wichtigen Grund für den deutschen Überschuss, der sich in erster Linie mit den gewachsenen und erfolgreichen Strukturen der hiesigen Wirtschaft erklärt. Deutschland exportiert vor allem Investitionsgüter, die in Schwellenländer ebenso gebraucht werden, wie in wirtschaftlich starken Staaten.
Zudem fällt der deutsche Überschuss bei genauerer Betrachtung wesentlich kleiner aus als gedacht. Mehr noch, er hat in den vergangenen Jahren in realwirtschaftlicher Rechnung sogar leicht abgenommen: So hat vor allem der schwache Ölpreis Importe immer günstiger gemacht. Wenn mehr Güter nach Deutschland eingeführt werden und zugleich die Preise der Importe sinken, schlägt sich das nicht in gleichermaßen erhöhten Importausgaben nieder. Tatsächlich kann der starke Anstieg im Leistungsbilanzüberschuss seit 2012 fast vollständig auf den zeitgleichen Rückgang der Importpreise zurückgeführt werden, zeigen Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW). Ohne den Importpreisrückgang wäre der Leistungsbilanzüberschuss für sich genommen um rund zwei Prozentpunkte des BIP niedriger ausgefallen.
Werden die Im- und Exporte stattdessen nämlich preisbereinigt betrachtet, wandelt sich das Bild grundlegend – der Exportüberschuss der deutschen Wirtschaft nimmt sogar leicht ab. Tatsächlich stiegen die realen, also preisbereinigten, Importe zwischen 2012 und 2015 mit 12,8 Prozent merklich stärker als die Exporte, die um 10,9 Prozent zulegten. Bei unveränderten Preisen wären die realen mengenmäßigen Importe damit um rund 141 Milliarden Euro gewachsen, während die realen Exporte rechnerisch etwas weniger stark um rund 138 Milliarden Euro zugelegt hätten.
Allerdings sanken die Importpreise in dieser Zeitspanne um satte 4,8 Prozent, die Exportpreise stiegen dagegen um 0,6 Prozent. Der Preisrückgang reduzierte den Wert der Importe in den vergangenen drei Jahren rechnerisch um rund 60 Milliarden Euro, sodass sie nominal (also einschließlich Preisentwicklung) lediglich um rund 81 Milliarden zulegen konnten – das war deutlich weniger als der Anstieg der nominalen Exporte in Höhe von 147 Milliarden Euro. Der Handelsbilanzüberschuss stieg hierdurch um 66 Milliarden Euro zwischen 2012 und 2015. Aus einem leichten realwirtschaftlichen Minus wurde so ein starkes nominales Plus, das die anderen Europäer alarmiert.
Daher sollte die EU-Kommission nicht zu sehr auf die nackten Zahlen und damit auf das Überscheiten der Schwelle von sechs Prozent beim deutschen Leistungsbilanzüberschuss schauen, sondern die dahinter stehenden realwirtschaftlichen Umstände mit bedenken.
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