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Knut Bergmann / Matthias Diermeier Gastbeitrag 7. März 2024

Mär vom Prekariat: Warum der Ausbau des Sozialstaats gegen die AfD nicht hilft

Die AfD gilt vielen als Partei der Abgehängten und Arbeitslosen – doch das ist ein Irrtum. In vielen Punkten stehen ihre Anhänger denen der FDP am nächsten. Wer sie zurückgewinnen will, sollte das bedenken, schreiben die IW-Ökonomen Knut Bergmann und Matthias Diermeier in einem Gastbeitrag für den Spiegel.

Wenn es darum geht, wie sich die AfD erfolgreich zurückdrängen lässt, fällt vielen Politikern der Ausbau von Sozialleistungen ein. »Wir dürfen niemanden damit durchkommen lassen, dass er die Idee entwickelt, weil es ihm schlecht geht, darf er rechtsradikale Ideen haben«, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz auf dem SPD-Parteitag im Dezember 2023 – und insinuierte damit, dass man Menschen von der Wahl der teils rechtsextremen Partei mittels Sozialpolitik abhalten könne.

Das dürfte ein Irrglaube sein. Programmatisch ist die AfD weitestgehend die wirtschaftsliberale Partei geblieben, als die sie gestartet ist. Damit erfüllt sie in fast allen Punkten exakt die Ansprüche, die ihre Wählerschaft an sie stellt. Diese steht insbesondere sozialpolitischen Maßnahmen sehr kritisch gegenüber.

Die wiederholt von der Politik vorgetragene Einschätzung, die AfD sei strukturell eine Partei des Prekariats, der Abgehängten, der Arbeitslosen, ist schlichtweg falsch.

Näher an den FDP-Anhängern

Zwar hat sich die Wählerschaft der AfD, die als eine Art besserverdienende Professorenpartei startete, über die Zeit soziodemografisch nach unten verschoben, ihr Mittelschichtsbauch wuchs aber über die Jahre. Die Titulierung als Partei der sich ausgeliefert fühlenden Durchschnittsverdiener passt immer noch.

Diese Titulierung beinhaltet zwei Elemente: erstens die schon genannte Soziodemografie. Und zweitens, dass AfD-Anhänger sich von denen aller anderen Parteien unterscheiden, indem sie am wenigsten daran glauben, ihr Leben weitgehend selbst bestimmen zu können. Dieser Befund zieht sich beständig durch Umfragen hindurch. Gleichermaßen stabil nehmen sie übrigens in fast allen politischen Fragen und Werteinstellungen die Extremposition ein.

In sozialpolitischer Hinsicht sind die Parteigänger der AfD denen der FDP am ähnlichsten: Ob Verteilungspolitik im Allgemeinen, beim Bürgergeld oder der Kindergrundsicherung: Ihre Ansicht ist jeweils die kritischste, gefolgt von den FDP-Anhängern. Nur bei der Begrenzung von Mietpreiserhöhungen ist es einmal umgekehrt: Dies ist eines der raren sozialpolitischen Themen, das bei den Anhängern der AfD mehrheitlich auf Zustimmung stößt – und bei dem sie Eingriffe des Staates überhaupt befürworten. Die Gruppe, die sich gegen die Mietpreisbremse ausspricht, fällt dabei um einiges größer aus als bei der Union-Anhängerschaft.

Viele AfD-Wähler fühlen sich ausgeliefert

Genauso denken die den Rechtspopulisten zuneigenden Menschen in Haushaltsfragen fiskalkonservativ. Als Reaktion auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, den Nachtragshaushalt 2021 für ungültig zu erklären, sprechen sich laut einer Infratest-Umfrage mehr als zwei Drittel von ihnen für Einsparungen und nur 17 Prozent für eine Aussetzung der Schuldenbremse aus, lediglich jeder Zwanzigste für die Anhebung von Steuern. Dabei spielen Einschnitte im Sozialstaat eine zentrale Rolle: Konkret nachgefragt, geben 84 Prozent an, beim Bürgergeld sparen zu wollen, 82 Prozent bei der »Umstellung der Wirtschaft in Richtung mehr Klimafreundlichkeit«.

Erwartbar stilisieren AfD-Politiker die Haushaltskrise als Verteilungskonflikt. Mitgliedern der Regierungsparteien werfen sie vor, diese seien »allesamt […] linke Träumer, sozialistische Ideologen, die Deutschland und seine fleißigen Einwohner ruinieren. Sie sind die Anwälte der Nichtleister, Schützer der Gesetzesbrecher« (Kay Gottschalk, finanzpolitischer Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion) oder entschieden »zugunsten aller Welt und zulasten der Deutschen« (Peter Boehringer, haushaltspolitischer Sprecher) – beide Zitate entstammen Debatten des Deutschen Bundestags aus dem vergangenen Jahr.

Der Grund für die Ablehnung von sozialpolitischen Positionen dürfte größtenteils in dem Gefühl der AfD-Anhänger begründet liegen, dass die Leistungen aus ihrer Sicht illegitimen Empfängern zugutekommen: Fast 90 Prozent lehnten die Bürgergeldreform der Ampelkoalition mit der Begründung ab, stärkere Migration belaste die Sozialkassen; der Prozentsatz derjenigen, die eine Verschärfung der Zuwanderungspolitik wünschen, liegt noch darüber.

Einmal mehr markieren beide Positionen das Extrem. Hinzu kommt die Erkenntnis, dass das Gros der AfD-Anhänger selbst weder Adressat von Sozialpolitik ist, noch dem Prekariat angehört, sondern lediglich fürchtet, dorthin durch Umstände, die es selbst kaum beeinflussen kann, abzusteigen – oder vielmehr: abgestiegen zu werden.

Jenseits von einem dezidiert wohlfahrtsschauvinistischen Umbau des Sozialstaats ist fraglich, wie dessen Ausbau die AfD Prozentpunkte kosten könnte.

Sozialpolitik wird es also kaum richten. Außerdem ist die Phase, in der sich jeder politische Graben mit Geld zuschütten ließ, sowieso vorbei.

Ein wirtschaftspolitisches Feld, auf dem sich gegen die AfD punkten ließe, ist hingegen die Regionalpolitik: Gerade in Zeiten, in denen etablierte Industriezweige durch die nötige Dekarbonisierung infrage gestellt werden, muss der Bedeutung von jahrzehntelang gewachsenen Wirtschaftsstrukturen regionalpolitisch Rechnung getragen werden.

Die AfD konnte bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen zum wiederholten Male in unter Strukturwandeldruck stehenden Regionen überdurchschnittliche Wahlerfolge feiern – ein aus Ostdeutschland bekanntes Muster. Sie gewinnt zunehmend in wohlsituierten Regionen, wo Menschen um ihren Wohlstand fürchten und nicht willens sind, die Kosten der Transformationspolitik zu tragen. Hinzu kommt, dass die damit verbundenen Vorhaben als übergriffig empfunden werden – das in dieser Kategorie beste Beispiel ist das in vielerlei Hinsicht misslungene Heizungsgesetz.

Fruchtbarer als der Versuch, diese Wählerklientel über den nachsorgenden Sozialstaat zurückzugewinnen, erscheint es daher, die knappen Ressourcen zugunsten einer vorsorgenden Investitionsförderpolitik zu priorisieren. Schließlich ist die regionale Balance der deutschen Wirtschaft ein Alleinstellungsmerkmal, das bis heute – anders als in Industrieländern wie den USA, Frankreich, Großbritannien oder Italien – dazu beiträgt, Spannungen zwischen Großstädten und dem ländlichen Raum ökonomisch einzuhegen.

In der politischen Auseinandersetzung könnte es helfen, die Protagonisten vom rechten Rand, so schwer das fällt, inhaltlich zu stellen und nicht bloß auszustellen, wie es allzu oft in Parlamenten und auf Talkshowbühnen geschieht.

Die AfD ist nicht zuletzt wirtschaftspolitisch hochgefährlich; sie liebäugelt mit einem Austritt der Bundesrepublik aus der Europäischen Union und/oder dem Euro, sie hat kein Konzept gegen den Fachkräftemangel, und sie bedroht unser freiheitliches System.

Hinzu kommen Widersprüche, wie etwa die im Grundsatzprogramm festgehaltene Forderung nach Subventionsabbau, die konterkariert wird vom aktuellen »Sofortprogramm Landwirtschaft«, in dem die »Verdopplung der Agrardiesel-Rückerstattung« verlangt wird. Ähnliches gilt in Sachen Freihandel, zu dem sich das Europaprogramm einerseits ausdrücklich bekennt, während andererseits die Bundestagsfraktion das Mercosur-Abkommen mit Südamerika ablehnt und geschlossen gegen das CETA-Abkommen mit Kanada gestimmt hat.

Zu guter Letzt dürfte gutes gemeinsames Regieren helfen – nicht nur die Union, auch die AfD profitiert von der Schwäche, dem Streit und dem Gegeneinander der Ampelkoalition. Zudem könnte selbst gegenüber der verärgerten Wählerschaft das Motto des sozialdemokratischen Wahlkampfs helfen, der Olaf Scholz ins Bundeskanzleramt geführt hat: Respekt.

Hier geht es zum Artikel auf Spiegel.de.

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