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(© Foto: GRAND VISONS)
Knut Bergmann in der Welt Gastbeitrag 30. Mai 2013

Immer nah bei de Leut

Trotz Internet und sozialer Netzwerke: Gewählt werden Politiker vor allem, wenn sie Vertrauen gewinnen. Und das gelingt am besten im direkten Kontakt mit dem Wähler.

Dass Wahlen in der Mitte gewonnen werden, gilt nicht erst seit der sozialdemokratischen Neuen Mitte von 1998 als ehernes Wahlkampfgesetz. Doch trotz sich auflösender Milieus wird das Wahlverhalten nach wie vor am stärksten von der Parteineigung bestimmt. Das gilt seit Jahrzehnten unverändert. Entscheidend bleibt demnach, die eigene Klientel zu mobilisieren. Dabei ist mit Blick auf die laufende SPD-Kampagne durchaus zweifelhaft, ob Mobilisierung am besten durch „Klartext“ – rhetorisch wie programmatisch – gelingt. Für alle Parteien gilt, dass sich durch Abgrenzung samt einem Schuss Populismus leicht ein Lagerwahlkampf inszenieren lässt. Der geht dann aber schnell an der gesellschaftlichen Realität links wie rechts vorbei: Weder leben wir in einem schreiend ungerechten Land, noch kann Deutschland den Euro-Staaten seine Solidarität kündigen. Wer so versucht, die Emotionen verunsicherter bis wütender Bürger zu beruhigen, löst langfristig keine Probleme.

Dafür braucht es tiefer gehender Diskurse, auch in Wahlkampfzeiten und an den Parteiständen auf den Marktplätzen. Experten sprechen von „Canvassing“, was so viel bedeutet wie Kundenfang oder Stimmenwerbung im direkten Kontakt zu einer bestimmten Gruppe von Personen. Das mutet in Zeiten von Online-Campaigning via Facebook und Twitter anachronistisch an. Allerdings erlaubt es eine persönliche Begegnung mit Menschen, die nun einmal der Nukleus allen Politischen sind. Diese Chance gilt es zu nutzen. Politik nur auf taktisches Handeln, strategische Fragen und digitale Kommunikation zu reduzieren wird unserem Gemeinwesen nicht gerecht. Dass das provinziell anmutende analoge „Nah bei de Leut“ eines Kurt Beck noch mal als politisches Erfolgsmodell reaktiviert werden könnte, war lange Zeit nicht zu erwarten.

Immerhin, Peer Steinbrück kopiert dieses Rezept auf seiner Länderreise. Obwohl er rhetorisch durchaus Marktplätzen gewachsen wäre, setzt die SPD auf direkte Kommunikation und verzichtet auf teure Großveranstaltungen. Authentische Begegnungen mit dem Wähler lautet das Gebot der Stunde. Maria Tibulski aus Bocholt, deren Ersparnisse der Kanzlerkandidat in seiner Nominierungsrede durch Spekulanten gefährdet sah, kann er hingegen nicht getroffen haben, die Dame gibt es nicht. Dafür finden sich unter Genossen Vorbilder, wie sich Wahlen durch unermüdliches Abklappern der eigenen Klientel gewinnen lassen. Sowohl Peter Feldmann in Frankfurt am Main wie jüngst Sven Gerich in Wiesbaden übernahmen aus Außenseiterpositionen die OB-Sessel von CDU-Vorgängern dank tausendfacher Hausbesuche.

„Den Kuchen bringt er mit“, so oder so ähnlich heißt ein mittlerweile quer durch alle Parteien verbreitetes Format, bei dem Bürger ihren Abgeordneten nach Hause einladen können. Solche Aktionen sind die konsequente Umsetzung des berühmten Diktums des Medientheoretikers Marshall McLuhan, nach dem das Medium die Botschaft ist. Die wichtigste politische Ressource bleibt nun einmal Vertrauen, es rangiert noch vor der Kompetenzvermutung. Angesichts der enormen Komplexität moderner Politik ist ohnehin erstaunlich, dass die einfachen Formeln überhaupt noch ziehen sollen.

Doch Menschen haben es nun einmal gern übersichtlich. In Zeiten von Krisen kontinentalen Ausmaßes und bei den nur schwer durchschaubaren Gemengelagen ist das verständlich. Drei Viertel der Deutschen glauben, über keinerlei Einflussmöglichkeiten auf europäischer Ebene zu verfügen; im Kommunalen hingegen denkt nicht einmal jeder siebte so negativ. Tatsächlich bietet das unmittelbare Umfeld Menschen Gelegenheit zu gestalten. Beide Motive stehen bei der Frage, was Engagierte antreibt, immer weit oben. Und sie gelten nicht zuletzt für Mitglieder von Parteien; „Plakate kleben“ dürfte jedoch für die allermeisten die Chiffre für das genaue Gegenteil sein. An Frustpotenzial kommt dazu, dass Funktionäre und Mandatsträger schnell den Verlust von Kontrolle oder sogar ihres Mandats fürchten. Unbedingt also muss die innere Geschlossenheit gewahrt und jede Kakofonie vermieden werden, gerade in Wahlkampfzeiten.

Diese Haltung unterminiert allerdings nicht allein die Debattenfreude, sondern erschwert den Zugang zu dem, was früher so schön als das „politische Vorfeld“ bezeichnet wurde. Nicht nur, dass die einst stabilen Bande zu Kirchen, Vereinen und anderen Organisationen loser geworden sind, teilweise selbst verschuldet. Laut der nach der Niederlage bei der Bundestagswahl 2009 initiierten Befragung der sozialdemokratischen Ortsvereine pflegen nur noch acht Prozent dieser „Kernzellen der politischen Organisation der SPD“ regelmäßig Kontakte zu den Gewerkschaften. Noch schwerer als diese organisationale Entfremdung wiegt, dass vielerorts die treuen Ehrenamtlichen zu selbstbewussten bürgerschaftlich Engagierten mutiert sind, die von ihrem Tun unmittelbare Sinnstiftung erwarten.

Nun lassen sich politische Parteien schwerlich zu Bürgerbewegungen umfunktionieren, jeder „Alternative für Deutschland“ zum Trotz. Dennoch können die politischen Dinosaurier viel von den sozialen Bewegungen lernen. Für die CDU ist das sogar die einzige Chance, ihre Großstadtschwäche zu überwinden. Wenn sich Parteien zu lokalen Themenanwälten machen, können sie Menschen an sich binden, die sonst mit Parteipolitik wenig am Hut haben. Wer deren Anliegen aufnehmen möchte, sollte eher Zuhören statt immer sofort Antworten geben, besser Nichtwissen bekennen, als ideologische Phrasen zu verbreiten. Nicht das verrauchte Hinterzimmer, sondern die Bereitschaft, auf andere zuzugehen und unorthodoxe Bündnisse mit ihnen zu schmieden, hilft.

Keine Frage, ein solcher Kulturwandel kostet Zeit. Sie sich zu nehmen fällt gerade Mandatsträgern schwer, wobei das ewig taktische Schielen auf Wahltermine Politik nicht eben attraktiver macht. Doch damit die politischen Parteien wieder als genuine Orte bürgerschaftlichen Engagements entdeckt werden, bedarf es mehr als nur eines internen Wandels hin zu mehr Offenheit, weniger Kontrolle und einer entfloskelten Rhetorik. Genauso braucht es Bürger, die den Aktiven mit etwas mehr Wertschätzung begegnen. Denn am Ende geht es in der Politik um unser Gemeinwesen, nicht um Wahlkampfstrategien.

Zum Gastbeitrag auf www.welt.de

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