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Knut Bergmann in der Neuen Zürcher Zeitung Gastbeitrag 18. April 2013

Die Schlechtwetter-Demokratie

Irgendwie können wir Deutschen es immer noch nicht ganz glauben, schreibt IW-Hauptstadtbüroleiter Knut Bergmann in der Neuen Zürcher Zeitung. Jahrelang galten wir als der "kranke Mann Europas", reformunwillig, manchmal larmoyant, an den Kosten wie emotionalen Folgen der Wiedervereinigung knabbernd. Und heute? Wegen der Wirtschaftsstärke, vergleichsweise solider Haushaltsführung, des hohen Industrieanteils, der weltweit gerade als Vorteil wiederentdeckt wird, und der politischen Macht werden wir misstrauisch beäugt.

Dass die Deutschland – und in den Augen vieler: Europa – regierende ostdeutsche Pfarrerstochter Angela Merkel einmal als Adolf Hitler karikiert würde, hätte sie sich bis vor kurzem nicht träumen lassen. Solche Schmähungen wird sie möglicherweise noch ein paar Jahre ertragen müssen. Nicht allein, weil sich das deutsche Modell noch länger als erfolgreich erweisen könnte, sondern auch, da die Kanzlerin gute Chancen hat, auch nach der Bundestagswahl im Spätsommer weiterzuregieren. Dies verdankt sie zum Teil ihrem Vorgänger Gerhard Schröder, der vor einem Jahrzehnt mutig Reformen ins Werk setzte. So mutig, dass sie ihn letztlich die Kanzlerschaft kosteten. Die Früchte erntet jetzt Frau Merkel.

Mit der Agenda 2010 endete der langanhaltende reformpolitische Stillstand, der schon im April 1997 in einer legendären Rede des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog rhetorisch Ausdruck gefunden hatte. Er attestierte seinen Landsleuten damals ein mentales Problem, das sich in der fehlenden "Bereitschaft, Risiken einzugehen, eingefahrene Wege zu verlassen, Neues zu wagen» niederschlage. Daher müsse "ein Ruck durch Deutschland gehen". Die Formulierung wurde schnell zu einem geflügelten Wort. Der Ruck kam dann auch, sechs Jahre später, aus der Not geboren: fünf Millionen Arbeitslose samt überforderter Arbeitsvermittlung, anhaltende Wachstumsschwäche, der Verstoss gegen die Defizitgrenze des Maastrichter Vertrages, für die doch gerade die Deutschen erbittert gestritten hatten. Psychologisch wirkte der Pisa-Schock nach; den deutschen Schulen war im ersten internationalen Vergleich ein verheerendes Zeugnis ausgestellt worden. Was folgte, als die Agenda griff, beflügelt von einer guten Weltkonjunktur, war ein Aufschwung, den selbst Optimisten kaum für möglich gehalten hätten.

Wie beim Menschen scheinen auch für Volkswirtschaften insbesondere die schlechten Zeiten die guten für Weiterentwicklung beziehungsweise Reformen zu sein. Jetzt aber geht es den Deutschen wieder gut. So gut, dass die innenpolitische und teilweise die europapolitische Debatte darum kreist, wie sich möglichst gerecht umverteilen lässt. Darin spiegelt sich ein Wandel der öffentlichen Wahrnehmung. Wurde vor zehn Jahren die hohe Arbeitslosigkeit als schreiende Ungerechtigkeit empfunden, rangiert heute das Empfinden, dass die soziale Ungleichheit zugenommen hat, in Umfragen zum Thema Gerechtigkeit ganz vorn. Der Gini-Koeffizient aber, das meistverwendete Mass für die Ungleichheit von Gesellschaften, ist seit 2005 in Deutschland konstant. Dennoch bricht sich das Unbehagen am Sozial- und Wirtschaftsmodell Bahn: Was den Eidgenossen die "Abzocker"-Initiative, ist den Deutschen die allgemeine verteilungspolitische Diskussion, in der die Initiative nun zum Vorbild erklärt wird. Beide Länder sind sich nicht nur in ihrer Wirtschaftsstruktur ähnlich, sondern genauso, was die Debatten angeht. Weil Politik und Medien gern generalisieren und vereinfachen, wird hier wie dort oft auf Einzelfälle fokussiert – wobei sich mit einigen davon auf deutscher Seite tatsächlich kaum Werbung für das Modell der Sozialen Marktwirtschaft machen lässt.

Nicht zuletzt deshalb ist Gerechtigkeit zum Hauptthema des Bundestagswahlkampfes avanciert, wie gesagt mit einem starken Fokus auf Verteilungsfragen. Die Frage, wie – übrigens auch europaweit – Solidarität jenseits von Umverteilung aussehen könnte, findet wenig Beachtung. Doch nicht nur vox populi folgend, hat die Politik schon in den vergangenen Jahren einige Reformen zurückgedreht. Ohne Zweifel war ein Problem der Agenda 2010, dass Gerhard Schröder, sonst durch und durch Machiavellist, dem Florentiner Reformator in mindestens einem Punkt nicht folgte: Machiavelli nämlich schrieb, dass Reformen langsam durchgeführt werden müssten, wenn sie dauerhaft sein sollten. Die Agenda allerdings wäre im Schongang niemals durchsetzbar gewesen. Die Partei-Psyche der SPD ist bis heute von ihr überfordert.

Was Frau Merkel nach der Bundestagswahl machen will, wird nur selten erörtert. Das Programm der CDU soll erst drei Monate vor dem Wahltermin am 22. September vorgelegt werden. Sie fährt derweil im Schlafwagen weiter, wobei offenbleibt, wer beim Halt im September zusteigt. Doch dafür, wie es reformpolitisch weitergeht, ist die Koalitionsfrage sowieso nachrangig. Beide Regierungen Merkel haben in dieser Kategorie unauffällig agiert, trotz grosser Mehrheit und klarem Mandat. Zuletzt waren es nur Trippelschritte.

In Deutschland bleibt viel zu tun: Die Energiewende darf nicht zu einer Wachstumsbremse werden, die Wettbewerbsfähigkeit muss global erhalten bleiben, die Steuerpolitik ist eine Dauerbaustelle. Bei all dem haben die Deutschen schon jetzt, um Roman Herzogs Rede von 1997 zu bemühen, "kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem". Trotzdem regiert eher die situativ-taktische Not, als dass langfristig orientierter Reformeifer am Werk wäre. Man muss sich damit trösten, dass manchmal auch Zufälle weiterhelfen können: Die Formulierung vom besagten "Ruck" kam der Legende nach eher zufällig ins Manuskript des Bundespräsidenten, der sie eigentlich nicht mochte. Sie blieb trotzdem darin stehen – und wurde zur reformpolitischen Chiffre eines ganzen Jahrzehnts.

Zum Gastbeitrag auf der Website der Neuen Zürcher Zeitung

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