Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, er braucht seine Rituale schreiben IW-Ökonomin Judith Niehues und Hanno Lorenz, Ökonom bei der Agenda Austria in Wien in einem Gastbeitrag für die Welt.
Kaum einer merkt, dass es uns besser geht als früher
Pünktlich zu Beginn des Weltwirtschaftsforums in Davos präsentiert die Nichtregierungsorganisation Oxfam jedes Jahr ihre Studie über Wohlstand und Armut in der Welt. Die ursprüngliche Schlagzeile, dass nur wenige Milliardäre so viel besitzen wie die ärmere Hälfte der Welt, ist allerdings in den Hintergrund gerückt.
Der Vergleich wirkt dieses Mal auch weniger spektakulär: War im Bericht von 2017 noch von acht Superreichen die Rede, ist die Zahl durch eine aktualisierte Datenbasis und Vermögenszuwächse in der unteren Hälfte inzwischen auf 162 Milliardäre gestiegen.
Mit den Unterschieden zwischen Männern und Frauen spricht Oxfam zwar einen wichtigen Aspekt an. Allerdings baut die Organisation auch dieses Jahr einen Vergleich abseits von Kausalität auf: So argumentiert Oxfam, dass auf der einen Seite die Belastung für Frauen durch Pflege- und Fürsorgearbeit zu geringerer Bildung und weniger Einkommen führt, während auf der anderen Seite das Vermögen der reichsten Menschen gestiegen sei.
Oxfam bleibt sich in der Argumentationslinie somit im Wesentlichen treu: Die Probleme existieren nur, weil wir in einem Wirtschaftssystem leben, das Reichtum speziell für Männer zulässt - und konstatiert eine "Ungleichheitskrise". Tatsächlich entwickeln sich jedoch bereits viele wichtige Indikatoren in eine erfreuliche Richtung.
Gerade viele ärmere Länder konnten in den vergangenen Jahren noch nie da gewesene Wohlstandsgewinne verzeichnen. Der Anteil der Menschen, die weltweit in extremer Armut leben, ist von mehr als 44 Prozent im Jahr 1981 auf unter zehn Prozent gesunken. Die Menschen werden im Durchschnitt nicht nur wohlhabender, sondern auch älter und gebildeter.
Durch den steten Fokus auf Reichtum und Ungerechtigkeit bleiben die erfreulichen Entwicklungen allerdings unter der Wahrnehmungsschwelle. Passend dazu glaubt gemäß einer Ipsos-Befragung aus dem Jahr 2017 nur einer von zehn Deutschen, dass die extreme Armut in der Welt in den letzten 20 Jahren gesunken ist. Beinahe zwei Drittel vermuten sogar einen Anstieg.
Mit dem Verkennen positiver Entwicklungen stehen die Deutschen nicht allein da. So finden zwei Drittel der EU-Bürger laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2018, dass die Welt früher eine bessere war. Wenn schon die positive Entwicklung nicht wahrgenommen wird, wie sollen dann erst die Treiber dieser Trends auffallen? Die größten Ungleichheiten existieren noch immer zwischen den Ländern. Der effektivste Weg, diese Unterschiede zu reduzieren, lag in den letzten Jahren im weltweiten Handel.
Auf diese Weise ist es beispielsweise China gelungen, Millionen von Menschen über die Armutsschwelle zu heben. Aus globaler Perspektive sinkt die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen seit Jahren. Trotz der bestehenden Vermögensunterschiede konnten Frauen gegenüber Männern insgesamt aufholen.
In der Wahrnehmung werden Globalisierung und marktwirtschaftliche Wirtschaftssysteme hingegen häufig negativ konnotiert. Die Erfolge der Systeme werden verkannt, der Wunsch nach Protektionismus und Abschottung steigt. Gleichzeitig impliziert das private Nettovermögen als zentraler Indikator im Weltvergleich teilweise sehr abwegige Ergebnisse. So zählen rund 38 Prozent der erwachsenen Deutschen zur ärmeren Hälfte der Welt, weil ihr Vermögen gemäß der von Oxfam verwendeten Daten aus dem Credit Suisse Global Wealth Databook unterhalb von rund 6300 Euro liegt.
Knapp 13 Prozent der Deutschen zählen sogar zu den ärmsten zehn Prozent der Weltbevölkerung, weil ihr Vermögen abzüglich Schulden negativ ist. Der garantierte Zugang zum Bildungs- und Gesundheitssystem, Rechtsstaatlichkeit und die sozialstaatliche Absicherung spielen bei dieser reinen Betrachtung der privaten Nettovermögen keine Rolle.
Beim isolierten Maß der Vermögensungleichheit schneidet Deutschland im internationalen Vergleich entsprechend eher schlecht ab. Ähnlich hoch ist diese jedoch auch in Norwegen, Schweden und Dänemark - allesamt Länder mit einem ausgeprägten Wohlfahrtsstaat und vergleichsweise geringer Einkommensungleichheit.
Eine Erklärung liegt in den sozialen Sicherungssystemen selbst: Während auf der einen Seite Arbeitnehmer monatlich einen Teil ihrer Einkommen für Steuern und Sozialversicherung abliefern, fehlt der Spielraum zur privaten Vermögensbildung. Dafür übernimmt der Staat auf der anderen Seite die soziale Absicherung wesentlicher Lebensrisiken. Würde man beispielsweise die erworbenen Rentenansprüche dem Vermögen hinzurechnen, würde die Ungleichheit in Deutschland um rund ein Viertel sinken.
Daraus ist mitnichten zu schließen, dass nicht auch in Wohlfahrtsstaaten wie Deutschland Ungleichheiten und Gerechtigkeitsdefizite bestehen, die es zu adressieren gilt. Durch die stark negative Schlagseite verfestigen sich jedoch Wahrnehmungen, die sich zunehmend von den Fakten entfernen. Es werden Unzufriedenheit mit dem Wirtschaftssystem und Misstrauen in Institutionen geschürt, die nicht zuletzt auch einen Nährboden für Populismus schaffen.
Zum Gastbeitrag auf Welt Online
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