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(© Foto: iStock)
Axel Plünnecke im Blogpost von table.media Gastbeitrag 6. Juli 2021

Vera-Daten so wertvoll wie nie

Wer Bildungsaufstieg auch nach Corona möglich machen will, muss ein genaues Bild der Kompetenzen von Schülern bekommen – und das ihrer Lernlücken. IW-Bildungsökonom Axel Plünnecke fordert daher, bereits erhobene Vera-Tests aus dem Jahr 2020 vollständig zu veröffentlichen.

In normalen Zeiten entwickelt sich das für die Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler relevante Umfeld von Schulen nur in geringem Maße. Bis Anfang 2020 wurden Lernzeiten durch den Ausbau der frühkindlichen Bildung und Ganztagsangebote zwar ausgeweitet. Trotz der Digitalisierung oder neuer pädagogischer Konzepte gab es aber bis dahin relativ wenig Veränderungen etwa im Unterricht der Schulen. Kein Wunder also, dass die Kompetenzentwicklung der Lernenden über einen längeren Zeitraum hinweg fast stabil blieb. Die bei „Pisa 2000“ erstmals dokumentierten Leistungslücken und Ungleichheiten haben sich nicht einschneidend verbessert, wenn man sich die gemessenen Ergebnisse des internationalen Vergleichstests oder auch des „Bildungstrends“ des nationalen Berliner Messinstituts IQB ansieht.

Eine völlig andere Situation ist mit dem März 2020 eingetreten. Im Zuge der Pandemie-bedingten Schließungen mussten Schulen praktisch über Nacht im Zeitumfang von mehreren Monaten auf digitalgestützten Distanzunterricht umsteigen. Erste empirische Befunde aus anderen Ländern zeigen, dass dort größere Lernlücken entstanden sind, die sich nach Altersjahrgängen (Jüngere waren stärker betroffen als Ältere), Kompetenzbereichen (Mathematik stärker betroffen als Lesen), sozioökonomischen Faktoren (Ärmere stärker betroffen als Reichere) und weiteren Aspekten (Leistungsschwächere stärker betroffen als Leistungsstärkere) unterscheiden. Selbst die Leistungen der Schülerinnen und Schüler mit gleichen Merkmalen streuen dabei sehr stark. Befragungen von Lehrkräften zeigen in Deutschland ferner, dass die Schulen sehr unterschiedlich auf den digitalen Fernunterricht vorbereitet waren. Größere Unterschiede und Anpassungsschwierigkeiten waren sogar noch im Frühjahr 2021 festzustellen.

Wie in einem Blindflug

Insgesamt wird seitens der Bildungspolitik festgestellt, dass größere Lernlücken entstanden sein dürften. Ein bundesweites Aufholprogramm im Umfang von zwei Milliarden Euro zur Schließung der Lernlücken wurde verabschiedet – eine Milliarde für Nachhilfe, eine Milliarde für sozialpädagogische Maßnahmen und Mentoring-Programme. Regional wollen die Länder das Nachhilfe-Programm in unterschiedlicher Form und Umfang ergänzen. Bei der Umsetzung wird jedoch wie in einem Blindflug vorgegangen. Es existieren keine Daten zu tatsächlich entstandenen Lücken, die nach Schulen, Schülergruppen, Kompetenzbereichen, Jahrgängen, Leistungsstand und weiteren sozioökonomischen Faktoren der Schülerinnen und Schüler differenziert werden könnten. Medizinisch gesprochen: Die Anamnese fehlt.

Die beinahe alleinige Verantwortung tragen erneut die Lehrkräfte und Schulleiter. Sie können die Lücken zwar im Unterricht in Teilen beobachten – aber nicht systematisch in den genannten relevanten Kategorien einordnen und vergleichen. Daher wäre es eher Zufall als systematische Steuerung, wenn die Fördermilliarden tatsächlich dort gezielt ankommen würden, wo die Lücken am größten und Bildungschancen am stärksten eingebrochen sind.

Ein Bild des postpandemischen Lernstands

Um diese zusätzlichen Förderangebote sinnvoll planen und inhaltlich gestalten zu können, müsste also zunächst systematisch festgestellt werden: Wie hoch sind die Lernverluste durch die Schulschließungen in den einzelnen Jahrgängen wirklich? In welchen Bereichen treten sie auf? Hierzu sollten Lernstandserhebungen wie Vera oder anderer Tests an allen Jahrgängen an allen Schulen durchgeführt werden. Und bereits erhobene Tests aus dem Jahr 2020 sollten vollständig veröffentlicht werden, damit wir schnell ein Bild vom postpandemischen Lernstand bekommen.

Um bei der Förderung nicht im Blindflug unterwegs zu sein und wirklich gezielt und effektiv fördern zu können, sollten die Vergleichstests erheben:

  •  Welche Schülergruppen an welchen Schulen wurden besonders stark in welchen Kompetenzbereichen betroffen? Es muss vermieden werden, dass Fördermittel an Schüler und Schulen ohne Lernlücken fließen, während die Mehrbedarfe bei Schülerinnen und Schülern und an Schulen mit großen Lücken nicht in ausreichendem Maße gedeckt werden können.
  • Welchen Schulen gelang es bei vergleichbaren sozioökonomischen Merkmalen der Schülerinnen und Schüler gut, Lernlücken zu vermeiden? Welche Lernstrategien haben diese Schulen während der Schulschließungen und in den Präsenzphasen danach eingesetzt? Hieraus können Konzepte abgeleitet werden, wie bei eventuell erneut notwendigen Einschränkungen des Schulbetriebs am besten vorgegangen werden sollte.
  • Wie gut ist der Lernstand heute und wie entwickeln sich die Kompetenzen bei den Schülerinnen und Schülern, an den Schulen und in den Bundesländern durch die von den Ländern entwickelten Förderkonzepten für den Sommer 2021 und folgende Monate des nächsten Schuljahres? Nur so ist eine Evaluation und Weiterentwicklung der Förderprogramme möglich, um Lernlücken bestmöglich schließen zu können.

Wichtig wäre es also, dass neben den Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler noch weitere Merkmale wie der familiäre Hintergrund (Bildungsstand der Eltern, Migrationshintergrund, Wohnsituation, Verfügbarkeit eines eigenen digitalen Endgeräts, eigener ruhiger Arbeitsplatz), die Organisation des Distanzunterrichts (Online-Unterricht, Lern-Plattform, Zusendung von Materialien, Art des Unterrichts) und durchgeführte Fördermaßnahmen an den Schulen erhoben werden. Das bedeutet, dass endlich der Schülerkerndatensatz mit den Ergebnissen der Kompetenztests verknüpft werden kann.

Vera-Tests: nicht gemacht oder nicht veröffentlicht

Diese Tests wurden leider häufig nicht durchgeführt oder veröffentlicht. Ob das Milliarden-Hilfsprogramm deutlich zu klein ist oder nicht, ob es die richtige Zielgruppe in der richtigen Art und Weise erreicht und wie es effektiv weiterentwickelt werden sollte, bleibt also ungewiss. Noch schlimmer – die wenigen vorliegenden, wenn auch vielleicht von einem größeren Auslesebias betroffenen Vera-Daten, werden nicht systematisch wissenschaftlich ausgewertet. Durch eine statistische Bereinigung der unterschiedlichen Teilnahmequoten von Schulen mit unterschiedlichen Problemlagen könnte man sich den oben genannten Fragen zumindest in kleineren Ausschnitten annähern.

Dass selbst die notwendige Diskussion zu diesen Daten unterbleibt, ist in meinen Augen besonders traurig, denn noch nie war eine aktuelle Datenlage zur gezielten Sicherung der Zukunftschancen aller Schülerinnen und Schüler so wichtig wie heute. Wer Bildungsaufstieg auch nach der Pandemie möglich machen will, der braucht schnell ein genaues Bild davon, wer in den zurückliegenden 14 Monaten den Anschluss verloren hat.

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