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Ruth Maria Schüler / Matthias Diermeier IW-Kurzbericht Nr. 16 2. März 2023 Aufstieg und Fall von Industriestädten dies- und jenseits des Atlantiks

Buffalo (New York State) und Dortmund sowie Akron (Ohio) und Chemnitz sind Partnerstädte, die die Geschichte der Deindustrialisierung teilen. Zeitgleich erlebten sie einen rasanten Bevölkerungszuwachs und Mitte und Ende (Ostdeutschland) des 20. Jahrhunderts einen Globalisierungsschock.

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Aufstieg und Fall von Industriestädten dies- und jenseits des Atlantiks
Ruth Maria Schüler / Matthias Diermeier IW-Kurzbericht Nr. 16 2. März 2023

Aufstieg und Fall von Industriestädten dies- und jenseits des Atlantiks

Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Institut der deutschen Wirtschaft (IW)

Buffalo (New York State) und Dortmund sowie Akron (Ohio) und Chemnitz sind Partnerstädte, die die Geschichte der Deindustrialisierung teilen. Zeitgleich erlebten sie einen rasanten Bevölkerungszuwachs und Mitte und Ende (Ostdeutschland) des 20. Jahrhunderts einen Globalisierungsschock.

Der unbegleitete Strukturwandel im „Rust-Belt“ ging mit wirtschaftlichen Verwerfungen einher, die sich bis heute in einer verfestigten Apathie der Wählerschaft spiegeln. Auch diesbezüglich zeigen soziale Sicherung und Regionalpolitik in Deutschland eine stabilisierende Wirkung.

Anhand der Bevölkerungsentwicklung lässt sich die lebendige Geschichte der Industriestädte nachzeichnen. Der wirtschaftliche Aufstieg des Ruhrgebiets führte zwischen 1870 und 1939 zu einer Verzehnfachung der Bevölkerung Dortmunds. In Chemnitz begründete sich parallel das Zentrum des deutschen Maschinenbaus – die Bevölkerungszahl verfünffachte sich. In Buffalo entwickelten sich Stahlproduktion und industrielle Getreideverarbeitung. Die Bevölkerung wuchs von gut 100.000 auf knapp 600.000 Menschen. Am spektakulärsten erfasste die industrielle Revolution das 10.000-Einwohner-Städtchen Akron, dessen Bevölkerung sich auf 250.000 Personen vervielfachte, während sie der Stadt als globales Zentrum der Gummi- und Reifenindustrie erhebliche Wohlstandsgewinne bescherte.

Mit den internationalen Wettbewerbern in Europa und Japan konnten Buffalo und Akron nach dem zweiten Weltkrieg jedoch nicht mehr mithalten. Symptomatisch für viele Rust-Belt-Städte verloren sie erst an Wettbewerbsfähigkeit und ab Mitte des 20. Jahrhunderts schließlich drastisch an Bevölkerung und Wirtschaftskraft (Hartley, 2013). Bis zum Jahr 2010 hat sich die Bevölkerung Buffalos mehr als halbiert; Akron kehrten knapp 30 Prozent der Bewohner:innen den Rücken zu. Viele hochqualifizierte weiße Menschen zogen in die attraktiveren Küstenregionen („White Flight“).

Die Karl-Marx-Stadt Chemnitz wurde als industrielles Zentrum in die Nachkriegsplanwirtschaft der DDR eingegliedert und attrahierte bis zur Wende einen lebendigen Zuzug. Die abrupte Öffnung implizierte dann jedoch einen späten Globalisierungsschock. Selbst die Neuausrichtung der Regionalpolitik, die sich in den 1990er Jahren in den Neuen Bundesländern auf zwischen 4 und 5 Milliarden Euro belief (Röhl, 2019), konnte Abwanderung und Deindustrialisierung nicht abwenden. Im Vergleich zu den entvölkerten Quartieren der Rust-Belt-Metropolen fiel der Bevölkerungsrückgang in Chemnitz geringer aus, der ökonomische Bedeutungsverlust wurde jedoch nicht minder schmerzlich erlebt.

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Das Ruhrgebiet wurde trotz des Bevölkerungsverlusts im Zweiten Weltkrieg zum Motor des deutschen Wiederaufbaus. Dortmunds Einwohnerzahl wuchs in den Nachkriegsjahren rasch, insbesondere durch den Zuzug vieler sogenannter „Gastarbeiter:innen“. Die deutsche Kohle- und Stahlproduktion geriet jedoch durch ausländische Wettbewerber unter Druck. 1974 führte man den „Kohlepfennig“ ein, der bis 1995 die Förderung des Steinkohlebergbaus subventionierte. Selbst Ende der 1990er Jahre flossen jährlich noch rund 4 Milliarden Euro Subventionen in die Steinkohle (Wissenschaftlicher Dienst des Bundestags, 2017).

Die Ursachen der Bevölkerungsdynamiken sind strukturell bedingt. Schon die Literatur um die „Varieties of Capitalism“ (Hall und Soskice, 2001) betont die Bedeutung wirtschaftlicher Institutionen am Beispiel der USA und Deutschlands. So ist der unbegleitete Umgang mit dem Strukturwandel komplementär zu einem deregulierten Arbeitsmarkt und einem wenig ausgeprägten Sozialstaat. In einem solchen System herrschen hohe Beschäftigungsanreize. Tatsächlich sind in den USA einige Sozialleistungen an den Beschäftigtenstatus gebunden, was viele Menschen dazu zwingt, nach einem Arbeitsplatzverlust schnell und ortsungebunden eine Anschlussbeschäftigung zu finden („People to the Jobs“). Eine regionalpolitische Stabilisierung, die im Ruhrgebiet eine sehr teure Ausprägung erlebt hat, bildet den idealtypischen Gegenpol („Jobs to the People“).

Ein Indiz für die Bedeutung der unterschiedlichen Institutionen bietet die Entwicklung der Arbeitslosigkeit. Während sich die Arbeitslosenquote in Dortmund im letzten Jahrzehnt von oben an die 10-Prozent-Marke angenähert hat und in Chemnitz graduell gesunken ist, zeigt sich in den USA eine viel sprunghaftere Entwicklung auf strukturell niedrigerem Niveau. Nach der Finanzkrise im Jahr 2008/09 lag die Arbeitslosenquote in Buffalo bei knapp 9 Prozent, um sich dann bis zum Vorpandemiejahr 2019 zeitweise auf unter 4 Prozent zu halbieren. Akron erlebte eine ähnliche Entwicklung auf etwas höherem Ausgangsniveau. Im Pandemiejahr 2020 sprang die Arbeitslosenquote dann zwischenzeitlich auf knapp 15 Prozent (Akron) und über 20 Prozent (Buffalo), um sich unmittelbar wieder auf Vorkrisenniveau zu erholen. In krassem Gegensatz zu diesem „hire and fire“-Arbeitsmarkt stabilisierte in Deutschland nicht zuletzt das Kurzarbeitergeld die Beschäftigung.

Die Frage, welches System langfristig mehr Stabilität bieten kann, lässt sich nicht abschließend beantworten. Eine umfassende Regionalpolitik und ein ausgeprägter Sozialstaat mögen die Immobilität der Bevölkerung befördern. Dem kann für eine aktivierende Sozial- und Regionalpolitik entgegenhalten werden, dass passgenaue Qualifizierungsangebote lokal Erwerbspotenziale heben und die Wettbewerbsfähigkeit einer Region verbessern. Perspektiven bieten, aber gleichzeitig Wandlungswillen einfordern, mag als Goldstandard für die deutsche „koordinierte Marktwirtschaft“ herhalten. Auf der anderen Seite haben die Rahmenbedingungen einer "liberalen Marktwirtschaft“ den Vorteil deutlich geringerer Kosten für Staat und Steuerzahler:innen. Den Erwerbstätigen wird eine größere Zumutungstoleranz abverlangt. Der implizite US-amerikanische Gesellschaftsvertrag sieht im Gegenzug dafür eine hohe soziale Mobilität vor. Wer sich genug anstrengt und flexibel sowie mobil agiert, soll sich Aufstiegschancen ausrechnen dürfen. Tatsächlich ist der Anteil der sozialen Aufsteiger in den USA in den vergangenen Jahrzehnten jedoch empfindlich zurückgegangen und liegt deutlich unter dem Niveau in Deutschland (Stockhausen, 2021).

Gerade in den deindustrialisierten Regionen haben sich Enttäuschungen über Chancenungleichheit an der Wahlurne Bahn gebrochen. Spannend ist darüber hinaus die regionale Differenzierung der Wahlbeteiligung, bietet sie doch häufig einen fruchtbaren Nährboden für Anti-Establishment-Parteien (Schulte-Coos/Leininger, 2021). In Buffalo lag die Wahlbeteiligung bei der US-Präsidentschaftswahl 2021 bei gerade einmal 53,6 Prozent – in Akron bei 54 Prozent (U.S. Census, 2022). Das sind 10 oder 13 Prozentpunkte weniger als in den zughörigen Bundesstaaten, wo die Wahlbeteiligung bei 64 und 67 Prozent lag (USA insgesamt: 67 Prozent). In Dortmund hingegen lag die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2021 mit 74 Prozent nur leicht unter dem NRW- und Bundesdurchschnitt von jeweils 77 Prozent. Auch in Chemnitz haben mit 75 Prozent anteilig fast so viele Menschen gewählt wie in Sachsen (Bundeswahlleiter, 2023). Während das Ruhrgebiet von Diermeier und Ko-Autorinnen (2021) mit Blick auf das demokratische System als „auffällig unauffällig“ beschrieben wird, kann diese Aussage für Chemnitz nicht geteilt werden. Vielmehr ist die in Sachsen als rechtsextrem einzustufende AfD zweitstärkste Kraft und die Unzufriedenheit mit dem demokratischen System besonders hoch.

Damit liefert die Analyse ein gemischtes Bild. Die wohlfahrtsstaatlich garantierte Absicherung vor existenzbedrohenden Risiken sowie die aktive Regionalpolitik begünstigen in Deutschland auch in deindustrialisierten Regionen, eine gesellschaftspolitische Stabilisierung im Strukturwandel. Bedeutsam für den gesellschaftlichen Frieden bei den Umwälzungen, die beispielsweise mit dem Braunkohleausstieg in naher Zukunft anstehen, ist jedoch die Erkenntnis, dass sich selbst mit viel Geld nicht automatisch Zustimmung zum demokratischen System erkaufen lässt. Hierfür braucht es das Anerkennen und Gehörschenken unterschiedlicher Lebensleistungen sowie die vermittelbare Perspektive auf eine selbstbestimmte und erfolgreiche Zukunft.

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