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Organizing Gewerkschaftsspiegel Nr. 3 31. August 2011 Mittel gegen Mitgliederverluste

Ein internationaler Vergleich zeigt, dass die Gewerkschaften mit ganz unterschiedlichen Organizing-Strategien gegen sinkende Mitgliedszahlen kämpfen. Dabei kann man drei grundsätzliche Ansätze unterscheiden: Der Versuch, (1) Einzelpersonen durch direkten, persönlichen Kontakt zu rekrutieren, (2) ganze Gruppen von Angestellten über ihre besonderen Bedürfnisse und Interessen anzusprechen, und (3) Kampagnen zu organisieren, welche die gesamte Öffentlichkeit für das Anliegen der Gewerkschaft mobilisieren.

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Mittel gegen Mitgliederverluste
Organizing Gewerkschaftsspiegel Nr. 3 31. August 2011

Mittel gegen Mitgliederverluste

Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Institut der deutschen Wirtschaft (IW)

Ein internationaler Vergleich zeigt, dass die Gewerkschaften mit ganz unterschiedlichen Organizing-Strategien gegen sinkende Mitgliedszahlen kämpfen. Dabei kann man drei grundsätzliche Ansätze unterscheiden: Der Versuch, (1) Einzelpersonen durch direkten, persönlichen Kontakt zu rekrutieren, (2) ganze Gruppen von Angestellten über ihre besonderen Bedürfnisse und Interessen anzusprechen, und (3) Kampagnen zu organisieren, welche die gesamte Öffentlichkeit für das Anliegen der Gewerkschaft mobilisieren.

(1) Gerade wenn es um die Erschließung von Belegschaften eines noch nicht organisierten Unternehmens geht, ist die Werbung von Einzelpersonen ein bewährtes Mittel. Hilfreich ist, wenn bereits ein Gewerkschaftsmitglied in einem zu organisierenden Betrieb arbeitet, weil er Kollegen unmittelbar ansprechen kann. Die britische Angestelltengewerkschaft USDAW bildet dazu eigens Aktivisten aus, die ein halbes Jahr außerhalb des Betriebs geschult werden und dann wieder in ihre Betriebe zurückkehren, um neue Mitglieder zu gewinnen. In Belgien ist ein überdurchschnittlich hoher Anteil von Arbeitnehmern in kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) Mitglied einer Gewerkschaft. Die normalerweise weniger organisierten Belegschaften von KMU werden hier durch ein Netzwerk von gewerkschaftlichen Kontaktpersonen, die von Funktionären aus größeren Betrieben ausgebildet wurden, an eine Mitgliedschaft herangeführt. In Skandinavien ist es nicht unüblich, sog. student organizer auch an Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen zu treffen – hier informieren und werben die Gewerkschaften quasi präventiv um zukünftige Mitglieder.

(2) Gewerkschaften buhlen aber auch im großen Stil um neue Mitglieder, indem bestimmte Gruppeninteressen in den Vordergrund gerückt werden. Die Überlegung dabei: Mitglieder aus einer Gruppe zu gewinnen wird umso wahrscheinlicher, je besser sich eine Gruppe von der Gewerkschaft vertreten fühlt. So werden z.B. von vielen osteuropäischen Gewerkschaften Jugendkongresse veranstaltet, um Mitglieder aus dieser erfahrungsgemäß schwer zugänglichen Gruppe zu organisieren. In nahezu allen EU-Staaten finden sich weiterhin Fälle, in denen durch Gleichstellungskomitees, Geschlechterquoten für Gewerkschaftsgremien u.Ä. versucht wird, die spezifischen Interessen von Arbeitnehmerinnen besser zu vertreten und weibliche Mitglieder stärker an Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Diese Anpassung gewerkschaftsorganisatorischer Strukturen reflektiert letztendlich die sich wandelnde Zusammensetzung der Arbeitnehmerschaft. So verwundert es nicht, dass sich viele Gewerkschaften in ganz Europa zunehmend auch um die Interessenvertretung von Zeitarbeitskräften und Teilzeitbeschäftigten oder von Arbeitnehmern mit Migrationshintergrund bemühen.

(3) Das Musterbeispiel für die dritte Strategie ist die „Justice for Janitors“-Kampagne der US-amerikanischen Dienstleistungsgewerkschaft SEIU. Es wurde eine personal- und kostenaufwendige Kampagne gegen einzelne, gewerkschaftsfeindliche Großunternehmen der Reinigungsbranche initiiert, die der SEIU binnen zehn Jahren einen Zuwachs von 650.000 Mitgliedern brachte – mit einer Gesamtzahl von 1,6 Millionen ist die SEIU heute der mitgliederstärkste Teil des Dachverbandes AFL-CIO. Der Kern einer solchen Kampagne ist die direkte Aktion, die – medienwirksam inszeniert – die Öffentlichkeit für die gewerkschaftlichen Belange mobilisieren soll. Zu diesem Zweck werden oftmals strategische Bündnisse mit anderen Organisationen, insbesondere mit „non-governmental organizations“ (NGOs), geschlossen, die mit eigenen Aktionen ebenfalls auf das Thema aufmerksam machen. Demonstrationen, Blockaden, aber auch kleinere Aktionen gegen Einzelpersonen, wie z.B. gegen den Geschäftsführer („blaming“ und „shaming“), sind zentrale Konzepte der „Lead-Organizer“. Diese oft eigens angeheuerten Experten planen die Kampagne zentral und leiten dann ihre Umsetzung direkt vor Ort an. Damit orientieren sich die Gewerkschaften am Vorgehen einiger NGOs. Durch die Kampagne soll gemeinsam mit den Bündnispartnern Druck auf das anvisierte Unternehmen aufgebaut werden. Dieser Druck kann sich über seine moralische Dimension und über die Einbeziehung der öffentlichen Meinung zu lokalen politischen Krisen aufbauen. Druck und Krise bilden dann den Ansatzpunkt, um die von den beteiligten Organisationen vertretenen Interessen durchzusetzen. Im Falle der „Justice for Janitors“-Kampagne konnte die SEIU viele der Reinigungsunternehmen zu Tarifabschlüssen zwingen und einen beträchtlichen Teil der Arbeitnehmer für sich gewinnen.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Gewerkschaften in vielen entwickelten Volkswirtschaften eine Tendenz zu einer gezielten und aktiven Mitgliederwerbung zeigen. Einzelne Projekte und Maßnahmen mit diesem Zweck werden zunehmend als ein integraler Bestandteil des gewerkschaftlichen Kerngeschäfts aufgefasst. Das Extrem der US-amerikanischen Kampagnenarbeit bleibt aber ein Sonderfall. Setzt sich der allgemeine Mitgliederschwund weiter fort, könnte dies die Legitimität der Gewerkschaften aber so weit untergraben, dass auch im relativ gemäßigten Kontext europäischer Arbeitsbeziehungen radikalere Mittel des Organizing in den Bereich des Möglichen rücken.

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