In öffentlichen Debatten wird oft behauptet, dass die Vermögensungleichheit in Deutschland permanent zunehme. Eine Analyse der Entwicklung der Nettovermögensverteilung auf Basis unterschiedlicher Mikrodatensätze zeigt jedoch, dass das Niveau der Vermögensungleichheit seit Beginn der 2000er Jahre nahezu konstant ist und in den letzten Jahren eher sinkt als steigt.
Vermögensverteilung: Bemerkenswerte Stabilität
IW-Kurzbericht
Institut der deutschen Wirtschaft (IW)
In öffentlichen Debatten wird oft behauptet, dass die Vermögensungleichheit in Deutschland permanent zunehme. Eine Analyse der Entwicklung der Nettovermögensverteilung auf Basis unterschiedlicher Mikrodatensätze zeigt jedoch, dass das Niveau der Vermögensungleichheit seit Beginn der 2000er Jahre nahezu konstant ist und in den letzten Jahren eher sinkt als steigt.
Ein Großteil der Deutschen befürchtet, dass die Verteilung von Einkommen und Vermögen zunehmend zu einem Problem für den Zusammenhalt der Gesellschaft wird. Die Sorgen um das Thema Verteilung stehen im Einklang mit der Vermutung vieler Bundesbürger, dass die hiesige Ungleichheit unentwegt zunehme. Vor dem Hintergrund niedriger Zinsen und steigender Immobilienpreise gilt dies vor allem für die Entwicklung der Vermögensungleichheit. So zeigt eine telefonische Repräsentativbefragung im Auftrag der Bundesregierung im Frühsommer 2017 beispielsweise, dass 64 Prozent der Bundesbürger annehmen, die Vermögensunterschiede haben in den letzten Jahren eher zugenommen. Da die vermeintliche Zunahme der Vermögensungleichheit regelmäßig auch als Argument für eine Wiedereinführung der Vermögensteuer genannt wird, besitzt dieses Thema besondere politische Relevanz.
Gleichwohl bietet der Blick auf die verfügbaren Vermögensdaten keinerlei empirische Evidenz für eine in den letzten Jahren gestiegene Vermögensungleichheit. Vermögen bestehen sowohl aus Finanzvermögen (Bargeld, Bankguthaben, das Vertragsguthaben von Versicherungen, Aktien) als auch aus Sachvermögen (Häuser, Fahrzeuge, Grundstücke). Der Gesamtwert des Vermögens bildet das Bruttovermögen einer Person oder eines Haushalts. Nach Abzug aller Verbindlichkeiten (Konsumentenkredite, Hypotheken) erhält man das Nettovermögen. Die Konzentration der Nettovermögen wird häufig mithilfe des Gini-Koeffizienten gemessen. Ein Gini-Koeffizient von 0 bedeutet, dass alle Haushalte genau das gleiche Nettovermögen besitzen. Umso größer der Gini-Koeffizient wird, desto ungleicher ist die Nettovermögensverteilung. Ein anderes Maß für die Konzentration der Vermögen ist der Anteil der vermögendsten 10 Prozent am Gesamtvermögen.
Vermögensungleichheit eher rückläufig
Im Wesentlichen zeigt sich auf Basis unterschiedlicher Datenquellen, dass sich der (gegenwärtige) Gini-Koeffizient der Nettovermögen nicht vom Niveau der Ungleichheit zu Beginn der 2000er Jahre unterscheidet (Abbildung). Laut den Studien zur wirtschaftlichen Lage privater Haushalte der Deutschen Bundesbank (Private Haushalte und ihre Finanzen, PHF), die seit 2010/2011 alle drei Jahre durchgeführt werden, schwankt die Nettovermögensungleichheit seit dem Jahr 2010 zwischen 0,74 und 0,76 Gini-Punkten und war zuletzt eher rückläufig. Auch der Anteil der vermögendsten 10 Prozent am gesamten Nettovermögen deutet mit 59 Prozent im Jahr 2010 und 55 Prozent im Jahr 2017 – wenn überhaupt – auf eine Verringerung der Vermögenskonzentration im aktuellsten Befragungsjahr. Im Vergleich zur Verteilung der verfügbaren Haushaltseinkommen sind die Nettovermögen aber weiterhin deutlich stärker konzentriert. Neben dem Einfluss staatlicher Absicherung geht die höhere Vermögenskonzentration unter anderem darauf zurück, dass das Vermögen erst langsam im Lebensverlauf aufgebaut wird und somit stärker vom Alter abhängig ist als das Einkommen.
Die Vermögensdaten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP), die seit dem Jahr 2002 in einem Abstand von fünf Jahren erhoben werden, zeigen ebenfalls keine wesentliche Veränderung der Nettovermögensungleichheit zwischen den Jahren 2002 und 2017 an. Dies gilt gleichermaßen für die Betrachtung individueller Nettovermögen auf der Personenebene wie für die Betrachtung von Haushaltsvermögen. Im Gegenteil: Im Jahr 2017 fällt die individuelle Nettovermögensungleichheit statistisch signifikant geringer aus als im Jahr 2007 (bei einer Fehlertoleranz von 5 Prozent). Mit einem Gini-Koeffizienten von 0,78 im Jahr 2017 liegt die Ungleichheit individueller Vermögen jedoch grundsätzlich höher als die Ungleichheit der Haushaltsvermögen (0,73 Gini-Punkte). Der Grund: Bei personellen Vermögensbetrachtungen erhöht ungleicher Vermögensbesitz innerhalb eines Haushalts die gemessene Vermögensungleichheit.
Eine größere Niveauverschiebung der Vermögensungleichheit ergibt sich erst dann, wenn der Betrachtungszeitraum auf die 1990er Jahre ausgeweitet wird. Diesen Blick erlaubt einzig die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS). Die EVS wird ebenfalls nur alle fünf Jahre erhoben und die Teilnahme daran ist freiwillig. Personen mit Migrationshintergrund und ausländischer Staatsangehörigkeit sind deutlich unterrepräsentiert. Zudem wird der obere Rand der Einkommens- und Vermögensverteilung durch eine obere Abschneidegrenze nur eingeschränkt erfasst. Aus der EVS geht sodann ein Anstieg der Nettovermögensungleichheit zwischen den Jahren 1998 und 2008 hervor, wobei die wesentliche Zunahme zwischen 1998 und 2003 stattfindet. Bis zum Jahr 2018 sinkt der Gini-Koeffizient wieder auf das Niveau von 2003. Somit gilt auch hier: Seit Anfang der 2000er Jahre hat sich das Niveau der Vermögenskonzentration nicht substanziell verändert.
Ränder der Vermögensverteilung werden nur unzureichend erfasst
Alle Haushaltsbefragungsdaten haben jedoch ein gemeinsames Problem: Sie erfassen die Ränder der Vermögensverteilung sowie einzelne Vermögenskomponenten nur unzureichend. So werden einerseits Top-Vermögenende nicht vollständig erfasst, was regelmäßig zu Versuchen der Hinzuschätzung der fehlenden Vermögenswerte aus Reichenlisten führt. Der Gini-Koeffizient der Nettovermögensverteilung steigt dabei beispielsweise im PHF um rund 0,03 Punkte in den Jahren 2010/2011 und 2014. Aber auch einzelne Vermögenskomponenten wie beispielsweise Betriebsvermögen, unterschiedliche Formen von Spareinlagen oder Vermögen in Versicherungen werden nur zu einem Teil erfasst.
Dass nicht nur die Untererfassung der Top-Vermögen einen Einfluss auf die Konzentration der Nettovermögen hat, sondern auch die Untererfassung anderer Vermögenskomponenten, weil ihre relative Bedeutung insbesondere für weniger wohlhabende Haushalte groß ist, zeigt die jüngste Integration des Werts von Pkws und Studienkrediten in das SOEP. Durch die Erweiterung dieser beiden Komponenten sinkt der Gini-Koeffizient der individuellen Nettovermögen im Jahr 2017 von 0,78 auf 0,76 Punkte. Auch wenn die Top-Vermögen absolut deutlich größere Vermögenswerte darstellen dürften, ist der Effekt auf die gemessene Ungleichheit bemerkenswert ähnlich.
Insgesamt zeichnet sich ein auffallend einheitliches Bild ab: Seit Anfang der 2000er Jahre ist die Nettovermögensverteilung in Deutschland weitestgehend stabil. Die ständigen Verweise auf eine stetig steigende Vermögensungleichheit halten somit einer empirischen Überprüfung nicht stand. Durch wiederholt anderslautende Bekundungen verfestigt sich jedoch ein Bild in der Bevölkerung, welches sich zunehmend von der Datenlage entfernt. Dies trägt zum einen dazu bei, dass sich die Sorgen der Bürger unbegründet erhöhen. Zum anderen erschwert es die Glaubwürdigkeit statistischer Auswertungen, wenn sie nicht dem Narrativ einer steigenden Ungleichheit folgen. Nicht zuletzt bedeuten die Ergebnisse für die Debatte um die Wiedereinführung der Vermögensteuer, dass die zentrale Prämisse einer stetig wachsenden Vermögensungleichheit nicht gegeben ist.
Maximilian Stockhausen / Judith Niehues: Vermögensverteilung – Bemerkenswerte Stabilität
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